Neurorhetorik: Das Schweizer Messer für Websites

Thomas Kaiser
Thomas Kaiser

Thomas Kaiser entwickelte an der TU München den ersten MPEG-Videocodierer für Windows und 1997 die erste deutsche SEO-Software. Er gründete 1997 die cyberpromote GmbH, einen Pionier im Bereich SEO, SEA und Usability, und ist seit Anfang 2021 CEO bei der +Pluswerk AG. Er schreibt Bücher, Fachartikel, ist bekannter Speaker und hält Workshops in der Google-Zukunftswerkstatt.

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Die Neurorhetorik ist nicht nur eine junge Wissenschaft, die die Sprache und ihre Wirkung untersucht. Wendet man sie auf Websites an, ergeben sich im Zusammenhang mit den jüngsten Erkenntnissen der Gehirnforschung und den Erfahrungen aus der User Experience (UX) nicht nur erstaunliche Überschneidungen. Tatsächlich spielt die Neurorhetorik für Website eine große Rolle. Über SEO, SEA, Content Marketing und Stellenanzeigen bis hin zur Strategie lehrt uns diese Wissenschaft, nicht nur besser zu texten, sondern „gehirngerecht“ Botschaften zu vermitteln.

Lesen, Zuhören und Erfassen von Inhalten erfolgen primär durch unser Unterbewusstsein. Jenes arbeitet schnell, intuitiv, assoziativ und mühelos. Der Hippocampus mit seinem Arbeitsspeicher (Kurzzeitgedächtnis) lässt von allen einprasselnden Informationen nur etwa 0,000004 % ins Bewusstsein. Mit Neurorhetorik kann man besser steuern, welche Informationen ins Bewusstsein gelangen und wie man dafür Inhalte und Texte optimieren kann.

Im ersten Teil in Ausgabe 73 wurde gezeigt, welche Emotionen es gibt und dass Emotionen eine von drei Methoden sind, in das Bewusstsein der Leser:innen und Zuhörer:innen zu gelangen. Dabei ist es sehr wichtig, überhaupt die Aufmerksamkeit der Nutzer:innen zu erlangen. Das ist in einer Welt mit zunehmend geringerer Aufmerksamkeitsbereitschaft für alle Unternehmen ein Problem.

Mit Attention Hacking wird versucht, die Aufmerksamkeit durch bewusste Stimulation bis hin zur Manipulation auf sich zu ziehen. Insbesondere im Social-Media-Bereich erzeugen Algorithmen Filterblasen und Doom Scrolling, sprich das lange Binden der Aufmerksamkeit bei Nachrichten und Videos. Das bewusste Ansprechen des Belohnungssystems und Ausschüttung von Dopamin in der Amygdala funktionieren hier sehr gut, können aber schnell zur Sucht führen.

Der Vorwurf von Watchbait und Clickbait bei Beiträgen und Videos ist jeder:m Social-Media-Nutzer:in von Facebook oder Instagram bekannt. Daher sah sich Facebook gezwungen, bewusst manipulative Texte zu unterbinden (https://www.facebook.com/formedia/blog/drive-reach-without-watchbait). Doch auch bei den Print-Medien werden Überschriften so gestaltet, dass sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Inhalte buhlen um Aufmerksamkeit

Betrachten wir zwei Beispiele: Die Überschrift „Deutscher Erfinder kann aus Katzen Benzin machen“ (Bild-Zeitung vom 15.09.2005) hat sich als falsch erwiesen, da der Erfinder aus Abfällen Benzin erzeugt. Der Journalist wollte nur aufzeigen, dass es theoretisch mit Katzen auch möglich wäre.

Hier werden gleich mehrere Techniken der Neurorhetorik eingesetzt: Emotionen durch Angst auszulösen, funktioniert immer und ist schon, seitdem Menschen sprechen können, ein bekanntes Mittel. Zudem wird nicht der Begriff „tote Tiere“, sondern ein konkretes Beispiel verwendet, nämlich eine Katze. Konkrete Begriffe können besser im Kopf ein Bild erzeugen und dadurch Emotionen hervorrufen als abstrakte Begriffe. Hierbei wird gerne das Beispiel Äpfel und Birnen statt Obst herangezogen. Neurowissenschaftler können diese Erzeugung von Bildern im Kopf in einem MRT sehen. Und nicht erst seit 2005 weiß man, dass Katzen bei Leserinnen und Lesern sehr gut funktionieren. Katzen sind ja auch heute noch ein Dauerbrenner im Social-Media-Bereich. Und die Grenzen mit Fake News immer weiter auszuloten, ist leider ein populärer Trend.

Die Anwaltskanzlei Wirth (www.wirth-rae.de) nutzt auf ihrer Website und in Werbebannern bewusst Angst, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ob ein Bär, eine Schlange oder ein Gorilla – auf vielen Bildern wird mit der Angst durch gefährliche Tiere gespielt.

Das Problem dabei ist: Während die Bild-Zeitung sehr bewusst und schon sehr lange auf diese Weise Leser:innen erreicht und anspricht, hat sie dann schon ihr Geld verdient, wenn die Zeitung gekauft ist. Die Kanzlei könnte hingegen dauerhaft und vor allem unbewusst mit Angst verknüpft werden. Dies wäre nicht unbedingt ein positives Signal, denn durch den derzeit anhaltenden Ukrainekrieg könnte der Bär auch noch mit Russland assoziiert werden.

Für die Erzielung von Aufmerksamkeit sind diese Methoden hilfreich. Im Bewusstsein der potenziellen Kundinnen und Kunden könnte die Kanzlei allerdings dauerhaft negativ abgespeichert werden. Eine wichtige Eigenschaft, das Vertrauen, wird dadurch vermutlich schon bei einem ersten Kontakt unbewusst beschädigt.

Neurorhetorik und UX

Warum ist die Aufmerksamkeit so enorm wichtig für Websites? Beim Lesen eines Buches, eines Whitepapers oder einer Zeitschrift haben sich die Lesenden schon entschieden, die Aufmerksamkeit dem Text zu schenken! Beim Aufruf einer Website muss man dies bei jeder einzelnen Seite immer wieder wiederholen! Besucher:innen einer Website verlassen diese in erheblichen Anteilen schon beim Aufruf der ersten Seite. Bei jeder weiteren Seite verliert man immer mehr User. Daher ist die Neurorhetorik ein fester Teil der User Experience, und es ergeben sich zahlreiche Überschneidungen und Synergien aus den Erkenntnissen.

Das klassische AIDA-Modell gibt es nicht nur entlang der Customer Journey, sondern auch innerhalb jedes einzelnen Seitenaufrufs. Man muss laufend die Aufmerksamkeit der Betrachter:innen der Website gewinnen, ihr Interesse wecken und das Verlangen auslösen, auf der Website zu bleiben. Leider wird sehr häufig der Fehler gemacht, davon auszugehen, dass die Besucher:innen schon alles lesen werden, was da steht. Doch, nein, im Gegenteil: Schon kleinste Fehler führen zum Verlust der Besucher:innen, und eine weitere Chance ist vertan.

Bei jedem einzelnen Seitenaufruf gibt es daher folgende Phasen:

Phase

Dauer im Mittel ca.

Messung / Tools

❶ Ladezeit

1–5 Sekunden

Core Web Vitals, Pagespeed, Lighthouse, etc.

❷ Wahrnehmung (Scannen)

ca. 3 Sekunden

Attention Analytics (Aufmerksamkeitsanalyse), z. B. Eyequant

❸ Fixation des Auges

 

 

❹ Informationsaufnahme

 

Mehrere Sekunden bis Minuten

Heuristische User Experience, A/B-Tests, Mouse-Tracking etc.

Die Core Web Vitals messen die Ladezeit basierend auf der tatsächlichen Nutzererfahrung mittels des Browsers Chrome. Daher sind sie ein wichtiges Instrument und strategische Kennzahlen für die Optimierung der User Experience (siehe dazu auch Heft 68).

Schon beim Laden einer Website scannt das Auge diese für knapp drei Sekunden, bevor das Auge fixiert und dann mit der Aufnahme der dargestellten Informationen beginnt. Bis zu diesem Punkt sind im Kopf der Nutzer:innen bereits einige Entscheidungen getroffen worden. Die primäre Entscheidung, zu bleiben oder nicht, ist da zum Großteil schon gefällt (siehe Studie „First Impressions Form Quickly on the Web“ der Missouri-Universität aus 2012). Bei diesem Mustererkennungsprozess, dem Blickverlauf, gilt es, das Auge geschickt zu führen.

Permanenter Mustererkennungsprozess

In der letzten Website-Boosting-Ausgabe wurde gezeigt, dass das Trusted-Shops-Logo beim Betrachten einer Website fast immer wahrgenommen wird. Dies führt aber auch dazu, dass der Blickverlauf permanent gestört wird und sehr unruhig ist, was die Absprungrate der Besucher:innen erhöht. Denn unser Gehirn prüft ständig und unbewusst, ob gerade eine bedrohliche Situation vorliegt. Gelb-schwarze Kontraste wie beim Trusted-Shops-Logo werden dabei immer mit Gefahr verknüpft, wie uns Bienen, Wespen, Hummeln oder der Feuersalamander aufzeigen.

In der Phytotherapie (Pflanzenheilkunde) spricht man auch von der Signatur der Pflanzen. Diese Lehre aus dem Altertum zeigt das Wissen der Menschen auf, wie uns Pflanzen durch Form, Charakter und Farbe etwas über ihre Wirkung sagen. Dies soll hier aufzeigen, dass nicht nur das Lesen oder das Betrachten von Bildern ein permanenter Mustererkennungsprozess ist. Unser Gehirn überprüft unaufhörlich unsere Umgebung.

Beim Betrachten und Analysieren von Websites und Texten erkennt unser Gehirn sofort, dass das Trusted-Shops-Logo ungefährlich ist. Aber es wiederholt diese Prüfung bei jedem einzelnen Seitenaufruf. Auch ein Bär auf einer Website wird sofort erkannt, kurzzeitig als gefährlich wahrgenommen und in Bruchteilen einer Sekunde als ungefährlich eingestuft. Dennoch kann dieser unbewusste Angstreflex bezüglich der Website mit dem Bären im Bewusstsein negativ assoziierte Spuren hinterlassen.

Der Blickverlauf beim Scannen

Im Folgenden wird ein Text analysiert, einmal als Fließtext in einem Absatz und dann optimiert nach neurorhetorischen Gesichtspunkten (Quelle: https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/amygdala/565). Die zwei Texte werden mittels der Aufmerksamkeitsanalyse von eyequant untersucht. Diese ermittelt den Blickverkauf in den ersten drei Sekunden, bevor das Auge fixiert.

Der optimierte Text in Abbildung 4 ist gekürzt, da der Text auf der gleichen Bildschirmfläche durch die Optimierung optisch deutlich länger wird. Nutzer:innen müssen also zum Lesen mehr scrollen, dafür werden mehr Interessierte den Text auch tatsächlich lesen und weniger die Website gleich wieder verlassen.

Das Ergebnis in Abbildung 5 zeigt, dass das Auge versucht, einen Fixpunkt zu finden, dies aber kaum möglich ist. Der „Clarity“-Wert definiert, wie unübersichtlich oder unklar das Bild bzw. das Design ist. Mit 1 hat es einen extrem niedrigen Wert, für die:den Betrachter:in ist es also eine Qual.

Die Analyse des optimierten Textes in Abbildung 6 zeigt sehr deutlich, dass das Auge den Text tatsächlich scannt, bevor es ihn fixiert. Die Orientierung ist für das Auge deutlich leichter und der Clarity-Wert sehr viel höher. Grundsätzlich ist bei eyequant der Clarity-Wert bei Bildern und Farben höher. Reiner Text bedeutet grundsätzlich mehr mentalen Aufwand, daher ist eine Optimierung umso wichtiger.

Das Beispiel zeigt, dass der Scanvorgang des Auges, der vor dem eigentlichen Lesen passiert, die Aufmerksamkeit beeinflusst. Ein geführter Blickverlauf wie in Abbildung 6 empfinden Nutzer:innen als angenehmer, was zu weniger Absprüngen von der Website führt.

Seit Kurzem erlaubt eyequant auch die Aufmerksamkeitsanalyse von Videos. Die genannten Beispiele lassen den Ladevorgang von Websites außen vor. Websites, die extrem schnell laden, haben keinen zusätzlichen Nachteil bei der Aufmerksamkeitsanalyse. Doch von den Core Web Vitals weiß man, dass sowohl ein langsamerer Ladevorgang (LCP-Wert) als auch das Verschieben von Elementen während des Ladens (CLS-Wert) negativen Einfluss ausübt. Zukünftige Analysen können daher den tatsächlichen Ladevorgang als Film analysieren und die Auswirkungen auf die Aufmerksamkeit und den Blickverkauf genauer auswerten. Es mag vielleicht kleinlich wirken, aber die Core Web Vitals hat Google entwickelt, weil sich der Ladevorgang erheblich auf diese Prozesse auswirkt. Daher sind die Core Web Vitals nicht allein als Werte für die Ladezeit zu betrachten, sondern auch als wichtige UX-Kennzahlen.

Text neurorhetorisch optimieren

Die folgenden Maßnahmen sind teilweise auch aus Stilfibeln und Ratgebern zum Schreiben bekannt. Heute lassen sich diese aber ebenso aus der Gehirnforschung begründen und noch besser verstehen. Der oben optimierte Text spiegelt einige der folgenden Punkte wider.

Das Ziel ist die kognitive Leichtigkeit, ein Begriff, den der Psychologe und Nobelpreisträger Prof. Daniel Kahnemann geprägt hat. Dies gelingt dadurch, dass der gesamte Text durch das Unterbewusstsein leicht und einfach verarbeitet werden kann und sich deswegen vertraut und richtig anfühlt. Er beschreibt diesen Vorgang auch als „fließende Verarbeitung“.

Optimierte Inhalte und Texte (die auch wahrgenommen werden!) sollen quasi einen „Flow“ beim Lesen und Betrachten von Inhalten erzielen. Da man dennoch gerne in das Bewusstsein mit positiver Assoziation eindringen möchte, kann man dies durch die von Prof. Martin Korte genannten drei Verfahren erreichen:

  • Wenn man glaubt, dass die Informationen zukünftig bedeutsam sein können
  • Wenn man damit etwas assoziieren kann (am besten durch Aha-Erlebnisse)
  • Wenn Emotionen ausgelöst werden

Vorweg muss noch erwähnt werden, dass sich der Arbeitsspeicher im Kurzzeitgedächtnis nur etwa sieben Elemente merken kann. Bei Untersuchungen von sehr langen Sätzen konnte man im MRT erkennen, dass das Bewusstsein zum Lesen mit aktiviert werden musste, um Teile des Satzes im Langzeitgedächtnis zwischenzuspeichern. Dieser erheblich höhere mentale Aufwand wird von den Leser:innen als unangenehm empfunden. Verwenden Sie daher möglichst keine Schachtelsätze, sondern kurze, einfache Sätze. Die sieben Elemente erklären auch, warum die Navigation einer Website möglichst nicht mehr als sieben Elemente haben sollte.

Zwischenüberschriften erleichtern das Scannen und die Aufnahme des Inhalts. Die Aufteilung des Inhalts auf kürzere Absätze ebenfalls.

Fremdwörter erzeugen ebenfalls mehr Aktivität im Bewusstsein und sind daher auch mental anstrengender. Die wichtige kognitive Leichtigkeit beim Erfassen von Texten geht verloren, Nutzer:innen dadurch auch. Da jede:r Fremdwörter anders definiert, sollte man also sehr vorsichtig beim Einsatz sein. Psychotherapeut:innen lernen in ihrer Ausbildung, dass sie sich vorstellen sollen, es sitze ein:e Ausländer:in vor ihnen. Man soll also stets langsam und einfach sprechen, damit die:der Klient:in alles versteht. Dies gilt entsprechend auch für Text.

Der Schrifttyp hat ebenfalls Einfluss auf die Glaubwürdigkeit eines Textes. Es ist naheliegend, dass Fonts wie der „Comic Font“ eher lächerlich wirken. Tatsächlich aber haben bestimmte Serifen-Schriften eine deutlich höhere Auswirkung auf die Glaubwürdigkeit und sogar Einfluss auf die Benotung in Schulen oder Universitäten.

Auch der Zeilenabstand beeinflusst auf der Website den Erfolg. Während beim Lesen eines Buches die Aufmerksamkeit in der Regel grundsätzlich höher ist, führen höhere Zeilenabstände auf Websites zu einem leichteren Zeilensprung, sprich, das Auge findet leichter den Anfang der nächsten Zeile (auch hier sind wir stets in einem laufenden Mustererkennungsprozess). Dennoch würden höhere Zeilenabstände einigen Büchern guttun, da wir den Inhalt mit geringerer mentaler Anstrengung lesen könnten.

Die Schriftgröße beeinflusst wie der Zeilenabstand ebenfalls die kognitive Leichtigkeit. In jedem Fall sollte man zu kleine Schriften vermeiden.

Auch kontrastarme Texte lassen im MRT eine verstärkte Aktivität im Bewusstsein erkennen. Verzichten Sie daher auf ausgedünnte oder graue Schrift. Denken Sie dabei auch an Kund:innen, die ihre Website vielleicht im Sonnenlicht auf dem Smartphone lesen wollen. Auch wenn Designer:innen ein dezenteres Grau mögen, verschenken sie damit unnötig die Aufmerksamkeit der Nutzer:innen und verhindern die kognitive Leichtigkeit.

Auflistungen (Bullet-Points) steigern ebenfalls den Lesefluss und erleichtern das Scannen. Im Beispiel in Abbildung 4 wurden dazu die weiteren Bezeichnungen der Amygdala als Auflistung eingebunden.

Konkret statt abstrakt: Mit Äpfeln und Birnen erzeugt man Bilder im Kopf, mit Obst nicht. Bilder im Kopf erzeugen auch Emotionen und sind daher nicht nur kognitiv leicht verständlich, sondern können es auch ins Bewusstsein schaffen. Bilder sagen mehr als Worte – das erklärt sicherlich auch, warum Infografiken oder Charts so gut ankommen, wenn sie einen Sachverhalt anschaulich und mit kognitiver Leichtigkeit erklären.

Texte in Versalien, also komplett in Großbuchstaben geschrieben, erzeugen mehr mentalen Aufwand, der Lesevorgang dauert länger, daher sollte man dies nur sparsam für Bildelemente einsetzen.

Priming durch externe Einflüsse

Priming ist eine Beeinflussung oder auch bewusste Manipulation der Einstellung, des Fühlens oder Handelns von betroffenen Personen durch Reize oder Ereignisse, aber auch durch eine Voraktivierung von Gedächtnisinhalten, Denkoperationen oder Verhaltensweisen. Einfache Beispiele sind die bekannte Verknappung von Produkten, wie es Apple zelebriert hat. Amazon tut dies durch wertlos erscheinende Informationen wie „3 Stück noch verfügbar, weitere sind vorbestellt“.

Daniel Kahnemann beschreibt aber auch, dass angelernte Denkweisen, Automatismen und Verhaltensweisen unbewusst das Handeln und Fühlen beeinflussen. Er musste selbstkritisch feststellen, dass seine Beurteilung von Aufsätzen und Prüfungen seiner Studierenden fehlerbehaftet war. Er stellte nicht nur fest, dass sein Vorgehen die Benotung bei bestimmten Studierenden positiv und bei anderen negativ beeinflusste, beispielsweise durch die Reihenfolge seiner Benotung. Zudem beeinflussten ihn gute Noten zu Beginn eines Semesters bei späteren Benotungen derselben Studierenden. Er ging dazu über, für eine Benotung den Namen unsichtbar und unberücksichtigt zu lassen. Diese unsichtbaren Einflussfaktoren und deren Untersuchung beschreibt er in seinem neuen Buch und Bestseller „Noise: Was unsere Entscheidungen verzerrt“.

In weiteren Untersuchungen stellte er beispielsweise fest, dass Richter:innen, die gerade erst gegessen hatten, Anträge auf vorzeitige Entlassung aus der Haft positiver beurteilen, als wenn die Nahrungsaufnahme schon länger zurücklag. So gibt es zahlreiche Faktoren, die uns unter der Bezeichnung „Priming“ bei Entscheidungen unbewusst beeinflussen. Aus den Erkenntnissen lassen sich nicht nur Schlüsse für Texte ziehen, sondern auch auf alltägliche Vorgänge.

Es empfiehlt sich also, bei Verkaufsgesprächen und Pitches besser den frühen Vormittag oder Nachmittag als Zeitpunkt zu wählen. Die Zuhörer:innen sind dann eher positiv gestimmt. Das Anbieten von Nahrungsmitteln für Meetings ist also nicht nur reine Höflichkeit, sondern kann auch positiv „primen“. Hierzu sollte man die Teilnehmenden zum Essen auffordern, nicht dass eine höfliche Zurückhaltung bei wichtigen Personen dann negativ „primt“.

Kahnemann rät zudem, bei Entscheidungen auch das Bewusstsein explizit zu befragen, ob die Entscheidung möglicherweise durch ungewollt fahrlässiges Durchwinken des Unterbewusstseins fehlerbehaftet sein könnte. Mehr zu dem sehr umfangreichen Thema Priming und seine wertvollen Möglichkeiten der Einflussnahme und Manipulation im nächsten Heft. Dort wird auch das Thema Storytelling aufgegriffen, das sich ebenfalls neurorhetorisch erklären und optimieren lässt.

Fazit: Die Herausforderung

In der letzten Ausgabe wurden bereits die beiden Systeme erläutert, die bei der Wahrnehmung von Website und dem Lesen eine Rolle spielen. Hier soll nochmals die Aufgabenstellung skizziert werden. Zusammenfassend ist die Aufgabenstellung in Abbildung 7 zu sehen, die eine starke Vereinfachung der komplexen Vorgänge zeigt.

Inhalte und Texte auf Websites sollen Aufmerksamkeit erzielen, kognitiv leicht und relevant für die Nutzer:innen sein. Dabei bewegen wir uns stets auf der User-Experience-Ebene. Wir sollten den „Flow“ beim Erfassen von Inhalten immer aufrechterhalten und es vermeiden, dass hierbei das Bewusstsein eingreifen muss.

Das Marketing möchte bestimmte Botschaften, Personen, Gefühle und Inhalte bei den Empfänger:innen möglichst dauerhaft verankern. Dies gelingt, in dem man mittels kognitiver Leichtigkeit die drei genannten Möglichkeiten gezielt nutzt, um durch den starken Filter zu gelangen, der in der letzten Ausgabe schon besprochen wurde. Wer dieses Spiel am besten beherrscht, hat gute Karten, positiv in Erinnerung zu bleiben.

Bei persönlichen Treffen und Meetings spielen natürlich Mimik, Gestik und viele weitere Faktoren eine Rolle. Auch bei der Werbung haben die genannten Punkte eine erhebliche Relevanz. Dennoch gelten die genannten Punkte grundsätzlich für jede Form der Kommunikation. Nutzen Sie diese.

Wenn Sie zu den genannten Punkten weitere Informationen, Literaturverweise, Tests und Experimente wünschen, finden Sie diese unter www.cyberpromote.de/neurorhetorik. Dort werden Sie auch ein Video finden, das mit großer Verblüffung aufzeigt, dass uns Affen im Bereich des Kurzzeitgedächtnisses deutlich überlegen sind. Dann muss man mit Demut anerkennen, dass wir nicht in allen Bereichen die Krönung der Schöpfung sind. Aber das würde jetzt zu weit führen …