Warum 10 % Kundeninteraktion besser sind als der 360°-Kundenblick!

Oliver Ratajczak
Oliver Ratajczak

Dr. Oliver Ratajczak ist seit 1992 begeisterter Online-Marketing-Praktiker. Als Berater optimiert er die Kundenprozesse seiner Klienten, die von DAX-30-Konzernen über den Mittelstand bis hin zu Start-ups reichen. Zudem ist er Lehrbeauftragter für Markenkommunikation und Kundenbeziehungsmanagement. Als Keynote-Speaker ist er rund um seine Themen Kundenprozessoptimierung, Marketing und Kommunikation auf diversen Veranstaltungen zu hören.

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Im Laufe der letzten Jahre waren aus vielen Marketingabteilungen Sätze wie diese zu hören: „Wir müssen derzeit auf die Einführung des nächsten großen Kundendatenwerkzeugs mit dem Namen XYZ warten. Wenn dieses dann endlich implementiert ist und wir den 360°-Blick auf ‚den Kunden‘ haben, dann können wir ihn optimal ansprechen und ihm unsere Produkte und Dienstleistungen viel besser schmackhaft machen.“ Dieser Artikel handelt davon, dass Warten nicht das Einzige ist, was man in der Zeit bis zur Erfindung der eierlegenden Marketing- und Vertriebs-Wollmilchsau tun kann und sollte.

Jeder, der einmal eine BWL-Vorlesung besucht hat, weiß, dass das Ziel eines Unternehmens das Erzielen von Umsatz und damit einhergehend von Gewinn ist. Der Umsatz wird häufig dadurch generiert, dass das Unternehmen seinen Kunden – im Folgenden zur Vereinfachung „der Kunde“ genannt – Produkte oder Dienstleistungen verkauft. Aber warum sollte der Kunde gerade unsere Waren kaufen? In den goldenen Zeiten der Verkäufermärkte, in denen die Nachfrage das Angebot überstieg, war das recht einfach. Man eröffnete ein Ladenlokal, bot seine Waren bzw. Dienstleistungen an und verkaufte diese an die herbeiströmenden Kunden. Glücklicherweise gibt es auch heute noch Nischen, in denen dies so funktioniert. Bewegt man sich mit seinem Unternehmen und seinem Produktangebot aber in gesättigten Märkten, so ist es deutlich schwieriger, einen hohen Umsatz zu generieren, der für einen erklecklichen Gewinn sorgt. Stets gilt es, mit seinen Produkten und Angeboten dem Wettbewerb eine Nasenlänge voraus zu sein. Oft wird als Lösung dieser Aufgabe der heilsbringende 360°-Kundenblick bemüht, der es ermöglicht, die Bedürfnisse des Kunden jederzeit exakt vorherzusagen. Denn nur wer weiß, was und wann der Kunde kaufen möchte, kann es ihm auch genau zum richtigen Zeitpunkt mit der richtigen Gewinnmarge anbieten. So weit die Theorie, warum viele Anbieter den gläsernen Kunden als Segen betrachten!

Aber was ist denn nun der 360°-Kundenblick? Und wie bekommt man ihn? Um diese Fragen zu beantworten, sollte man sich einmal einen vereinfachten Kundenlebenszyklus näher ansehen.

Wie sieht ein einfacher Kundenlebenszyklus aus?

Abbildung 1 zeigt einen schematischen Kundenlebenszyklus vom Anfang bis zum Ende. Der Kundenlebenszyklus beginnt in diesem Beispiel mit der Funktion Produktentwicklung, die ein bestimmtes Bedürfnis unseres Kunden voraussetzt und entsprechende Angebote in Form physikalischer Produkte oder Dienstleistungen entwickelt. Dies geschieht häufig auf Basis von Kundenbefragungen, strategischen Überlegungen oder auch auf Wunsch eines Vorgesetzten mit „lustigen neuen Produktideen“. Eventuell handelt es sich bei dem neuen Erzeugnis aber auch um die Weiterentwicklung eines bereits bestehenden Produkts, in das die Verbesserungsvorschläge früherer Kunden einflossen. Die Eckdaten und wichtigsten Verkaufsargumente des neuen Artikels werden zusammen mit dem Marketing entwickelt oder, je nach Organisationsform des Unternehmens, einfach an das Marketing „übergeben“.

Die weiteren Aufgaben des Marketings sind es, darauf Argumente und entsprechende Kampagnen zu erarbeiten, welche die ins Auge gefassten Zielgruppen zum Kauf bewegen sollen. Mit einer beispielsweise per Google-Adwords geschalteten Kampagne beginnt die sogenannte Customer Journey, die den Weg des Kunden vom ersten Kontakt mit dem Angebot bis hin zum Kauf beschreibt.

In diesem Beispiel ist es das Ziel der Marketingkampagne, bei den anvisierten Interessenten bzw. Bald-Kunden Interesse am Produkt zu generieren und diese z. B. zur Kontaktaufnahme mit einem Vertriebsmitarbeiter zu bewegen.

Die Vertriebsmitarbeiter, z. B. Shopmitarbeiter eines Telekommunikationsunternehmens oder Reisebüromitarbeiter bei einem Reiseveranstalter, freuen sich über den Kontakt mit dem neuen Interessenten und beraten ihn umfassend. Zu einem gewissen Anteil (im Online-Geschäft wird dieser durch die Conversion-Rate angegeben) wird es den Vertriebsmitarbeitern gelingen, den Interessenten zum Kauf zu bewegen und ihn so zum Kunden zu wandeln.

Die obigen Schritte beschreiben eine vereinfachte Customer Journey, wie sie täglich im Rahmen der Einmalkauf-Ökonomie betrachtet wird. Diese Einmalkauf-Ökonomie ist häufig auf den reinen Produktabsatz fokussiert und betrachtet dabei lediglich die Schritte Marketing > Vertrieb > Verkauf. Es drängt sich hierbei der Eindruck auf, dass der individuelle Kunde nur eine untergeordnete Rolle spielt, da dieser dabei häufig als reiner Abnehmer der in der aktuellen Marketingkampagne beworbenen Produkte vorkommt.

Nur wenige Unternehmen scheinen sich die Frage zu stellen, was nach der Bezahlung des neuen Produkts beim Kunden passiert. Die folgenden sind nur einige der Fragen, die man sich stellen sollte:

  • Was geschieht nach der Bezahlung? Wird der Kunde über alle weiteren Schritte inklusive präziser Terminierung informiert?
  • Wie gelangt der Kunde in den Besitz des Produkts? Muss er z. B. das nicht zugestellte Paket bei der nächstgelegenen Paketstation oder beim Postamt abholen?
  • Wie fühlt es sich an, das Produkt zum ersten Mal auszupacken? Ist es so stark in die Verpackung eingeschweißt, dass sich die eine oder andere Kundin gleich einen Fingernagel abbricht?
  • Wie kann der Kunde sein neues Produkt „in Betrieb“ nehmen? Liegt dem Paket eine zwar allen rechtlichen Anforderungen entsprechende Anleitung bei, aber der Kunde muss den Teil in seiner Muttersprache erst zwischen zwanzig anderen Sprachversionen finden?
  • Wie ist das Erlebnis der regelmäßigen Nutzung? Ist Ihr Produkt selbsterklärend oder verweist Ihre zugehörige Service-Webseite zuerst auf FAQ-Listen und Kundenforen?

Dies ist ein kleiner Teil des Fragenkatalogs, den sich Unternehmen, die nach der Stammkunden-Ökonomie arbeiten, regelmäßig näher ansehen. Denn die Stammkunden-Ökonomie hört mit der Betrachtung des Kunden nicht beim Kauf auf wie die klassische Customer Journey, sondern widmet sich ganz gezielt allen Möglichkeiten zur Eroberung des Kundenherzens. Wenn Ihnen, Ihrer Marke und Ihren Produkten das Herz des Kunden „gehört“, reichen bereits deutlich geringere Marketingaufwände, um ein Folgegeschäft zu generieren.

Das in Abbildung 1 dargestellte Ende der Kundenbeziehung bedeutet also nicht unbedingt, dass der betrachtete Kunde verstirbt, sondern deutet lediglich an, dass es für jede Kundenbeziehung ein bestimmtes Zeitfenster gibt, in welchem es Ihnen gelingen sollte, Ihre Interessenten zu Kunden (Conversion) und Ihre Kunden zu Stammkunden (Disversion) zu machen.

Auf der Suche nach dem 360°-Kundenblick

Die mögliche Komplexität eines Kundenlebenszyklus wird noch gesteigert, wenn man dessen einzelne Schritte und Funktionen verschiedenen Organisationseinheiten im Unternehmen zuordnet. Die Produktentwicklung erfolgt häufig im Bereich Forschung & Entwicklung. Das Marketing kann in Bezug zum betrachteten Produkt in einer zentralisierten Abteilung, eben der Marketingabteilung, erfolgen. Es wurde bis heute aber nicht nur einmal beobachtet, dass der Vertrieb, egal ob der unternehmenseigene oder ein eventuell ausgegliederter, mit den zur Verfügung gestellten Marketingmaterialien nicht zufrieden war und selbst „kreativ“ wurde. Mit der Kundenbrille betrachtet kann es so ganz schnell zu Inkonsistenzen im Marketingauftritt kommen: Welche Abteilung ist eigentlich dafür zuständig, das Herz des Kunden zu erobern? In wessen Ressort fällt der Umgang mit Stammkunden? Ist hier die Abteilung Aftersales der richtige Ansprechpartner?

Betrachtet man Abbildung 2, so wird schnell klar, wie häufig siloartige Organisationsstrukturen dazu führen, dass unterschiedliche Abteilungen auch ganz andere Erwartungen vom 360°-Blick auf den Kunden haben. Diese unterschiedlichen Erwartungen können sich teilweise überschneiden, müssen es aber nicht. Soll das heißen, dass es den einen immer wieder geforderten 360°-Blick auf den gläsernen Kunden gar nicht geben kann?

Wo ist er denn nun, der heilsbringende 360°-Kundenblick?

Versucht man ein möglichst ganzheitliches Bild einer Organisationstruktur im Zusammenspiel mit dem Kundenlebenszyklus zu bekommen, so wird es bald notwendig, auch die Geschäftsführung mit einzubeziehen. Deren Wunsch nach einem möglichst umfassenden und stets aktuellen Überblick über alle Kundenbelange, wieder ein 360°-Blick auf den Kunden, wird häufig mit einer Kundendatenbank befriedigt. In Abbildung 3 ist das Zusammenspiel dieser Kundendatenbank mit dem Kundenlebenszyklus und den zugehörigen Organisationsstrukturen schematisch dargestellt. Zugegebenermaßen ist diese Abbildung ein wenig vereinfacht, da in vielen Unternehmen diverse Datenbanken Kundendaten halten, so z. B. die folgenden:

  • Adressverwaltung
  • Vertragsmanagementsystem
  • Mailingdatenbank
  • Webanalysesystem
  • ERP-System
  • Newsletterverwaltung
  • etc.

Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass die diversen existierenden Systeme die einzelnen Kundendaten stets aktuell und synchronisiert vorhalten. Wie weit ist Ihr Unternehmen von diesem Idealbild derzeit entfernt?

Die im zentralen Kundendatenbanksystem vorgehaltenen Daten werden der Geschäftsführung jederzeit und topaktuell über ein sogenanntes Dashboard (blaue Symbole) zur Verfügung gestellt. Die Geschäftsführung kann auf Basis dieser Informationen Geschäftsstrategien entwickeln und Zielvorgaben für die einzelnen Abteilungen ableiten. Die zur Umsetzung und Steuerung notwendigen Kennzahlen (KPI) werden somit nicht nur der Geschäftsführung, sondern auch den einzelnen Abteilungen, entweder direkt oder indirekt, aus der Kundendatenbank zur Verfügung gestellt. Dies führt dazu, dass jedes Dashboard einen individuellen 360°-Blick auf den Kunden zur Verfügung stellt.

So weit die Idee! Aber wie sieht es in Wirklichkeit z. B. in Ihrem Unternehmen aus? Zahlt jede Zielvorgabe jeder Abteilung in Ihrem Unternehmen auf die Gesamtstrategie ein? Kam es bei Ihnen bereits vor, dass aus Versehen zwei Abteilungen gegenläufige Zielvorgaben erhielten? Wie kann so etwas sein, wenn doch alle Beteiligten, inklusive der Geschäftsführung, über den einen 360°-Kundenblick verfügen?

Einige Gründe für die verschiedenen Blickwinkel auf den Kunden sind z. B.:

  • Den einen 360°-Blick auf den Kunden gibt es nicht.
  • Alle Beteiligten sind Menschen und damit fehlbar.
  • Die Bemühungen anderer Abteilungen werden bewusst „sabotiert“, da man „es besser weiß“.
  • Persönliche Interessen werden absichtlich vor die Interessen des Unternehmens und der Kunden gestellt.

Zusammengefasst: Es ist extrem schwierig, einen 360°-Blick auf den Kunden zu erhalten, da man nie sicher sein kann, ob dieser nicht irgendwie unvollständig oder sogar manipuliert ist.

Die Lösung: Besser wenige, aber dafür überlegte und gezielte Kundeninteraktionen

Hören Sie auf, einen Großteil Ihrer Bemühungen in den ach so erstrebenswerten 360°-Blick auf den Kunden zu investieren, und beginnen Sie,  sich wirklich aufrichtig und ehrlich mit dem Kunden zu beschäftigen. Verbringen Sie wieder größer werdende Anteile Ihrer Arbeitszeit damit, sich zu überlegen, wie Sie eine wirkliche Beziehung zu Ihrem Kunden aufbauen können. Hier helfen die folgenden Fragen weiter:

  • Wann gibt es einen Grund für eine echte Kundeninteraktion?
  • Warum wollen Sie ausgerechnet jetzt dieses Mailing an Ihre Kunden versenden? Weil Sie schon lange keines mehr gesendet haben? Weil noch Budget für diese Kampagne zur Verfügung steht? Weil Sie Ihr Unternehmen noch einmal ganz allgemein in Erinnerung rufen wollen? Sind Sie sicher, dass sich prinzipiell jeder Empfänger über Ihr Mailing freuen wird?
  • Woran kann es noch liegen, dass Ihre ResponseRate bei der letzten Kundenaktion so außergewöhnlich klein war? Hat der Kunde Sie wieder einmal nicht verstanden oder haben Sie ihm Ihr Anliegen nicht gut genug erklärt? Sind Sie sicher, dass der kontaktierte Kunde wenigstens ein generelles Interesse an Ihrer Aktion hatte?
  • Nutzen Sie die unternehmensindividuell festzulegende Kennzahl der DisversionRate in regelmäßigen Berichten zur Steuerung aller Ihrer Kundenaktivitäten? Angenommen, Sie haben die Disversion-Rate als Verhältnis aller Kunden zu allen Stammkunden festgelegt. Versuchen Sie dann mit jeder Kundeninteraktion, die Disversion-Rate zu erhöhen?

Nicht vergessen: Ein Bestandteil von „Kundenbeziehungsmanagement“ ist „Beziehung“

Nicht vergessen: Kundenbeziehungsmanagement enthält das Wort „Beziehung“! Und eine Kundenbeziehung funktioniert nicht, wenn gar kein wirkliches Interesse am Kunden besteht – wie auch in jeder anderen Beziehung im wahren Leben.

Würde es Ihnen nicht auch etwas komisch vorkommen, wenn sich Ihre Ehefrau bzw. Ihr Ehemann immer nur einmal im Jahr bei Ihnen meldet, um Ihnen das Restaurant mitzuteilen, in welchem Sie beide ganz romantisch den jährlichen Hochzeitstag feiern werden? Den Rest des Jahres lässt er bzw. sie nichts von sich hören bzw. sich nicht blicken. Dies wäre doch ein äußerst ungewöhnliches Verhalten, oder?

Sehen Sie eventuell Parallelen zum Verhalten Ihres Mobilfunkproviders? Meistens nimmt man ihn und seine Marke nur in Form monatlicher Rechnungen wahr – es sei denn, der Zeitpunkt der Vertragsverlängerung rückt näher. Dann erhalten Sie plötzlich Anrufe, in denen Ihnen ein ganz persönliches Angebot zur Vertragsverlängerung gemacht wird. Das macht irgendwie misstrauisch, oder?

Bei sehr großen Kundenzahlen ist es natürlich nicht einfach bzw. nicht möglich, eine persönliche Beziehung zu jedem Kunden aufzubauen. Aber es gibt immer Möglichkeiten, sich mit durchdachten Kampagnen vom Wettbewerb abzuheben. Analysieren Sie den Kundenlebenszyklus Ihrer Kunden exakt nach Möglichkeiten eines regelmäßigen Beziehungsauf- und -ausbaus. Für viele dieser Ansatzpunkte sind keine Big Data notwendig. Häufig reichen hier ein wenig logischer Menschenverstand und ein bisschen Einfühlungsvermögen. 

Praxistipps

  • Der 360°-Kundenblick existiert in der Praxis nicht!
  • Sammeln Sie Kundendaten nicht, um sie zu besitzen!
  • Wenn Sie keine konkrete(!) Vorstellung davon haben, was Sie mit einem bestimmten Datum machen möchten, um Ihre Gewinne – auch langfristig – zu steigern, beschäftigen Sie sich nicht mit Möglichkeiten, dieses Datum zu erhalten!
  • Nutzen Sie jedes Kundendatum, das Ihnen zur Verfügung steht, um die Bindung zum Kunden zu stärken!
  • Analysieren Sie die Kundenlebenszyklen Ihrer Wettbewerber gezielt auf für Sie leicht umzusetzende Kundeninteraktionen.

Fazit

Warten Sie nicht auf das nächste Tool zum Erreichen des 360°-Blicks auf den Kunden, sondern schöpfen Sie die bereits vorhandenen Daten zu 100 % aus, bevor Sie Energie in die Erweiterung Ihres Datenbestands investieren.

Wann haben Sie z. B. zum letzten Mal Ihren Kunden zum Namenstag gratuliert? Ich bin mir sehr sicher, dass Ihre Kundendatenbank den Vornamen Ihrer Kunden für Sie griffbereit vorhält!