Ähnlich wie in Wedel hat auch in Thüringen eine Stiftungsprofessur den Weg zu einem Studiengang geebnet. Eigentlich ist es schon schlimm genug, dass Unternehmen wie Otto und andere privates Geld in die Hand nehmen müssen, um das Thema E-Commerce prominenter bzw. überhaupt erst auf die Lehrpläne der Hochschulen zu bekommen. Während Experten davon sprechen, dass der Mangel an derartigem und vor allem akademisch ausgebildetem Nachwuchs eine extreme Wachstumsbremse für Deutschland darstellt, versprechen Bildungspolitiker, in dessen Zukunft zu investieren. Allein bei diesen Versprechen bleibt es – zumindest, was moderne und dringend benötigte Ausbildungsinhalte angeht. Trotzdem muss man kritisch hinterfragen, ob ein ganzer Studiengang mit nur einer auf Zeit gestifteten Professur wirklich tragfähig bedienbar ist.
Die Wiege des E-Commerce?
24 Erstsemesterstudenten sind im Wintersemester 2013 gestartet und in einigen Wochen geht nun der zweite Jahrgang des neu etablierten Studiengangs E-Commerce in Jena an den Start. Das Thema „E-Commerce“ in der Ausbildung ist derzeit fast ein Selbstläufer. Trotzdem ist das Angebot der deutschen Hochschulen in Summe als praktisch noch nicht existent anzusehen. Der private Ausbildungssektor hat sehr viel schneller reagiert, aber mangels wirklich qualifizierter Dozenten findet man dort auch viele – wenn auch gut gemeinte – Mogelpackungen. Für staatliche Hochschulen ist die Dozentenauswahl noch deutlich schwieriger. Dort muss man penibel darauf achten, dass neu berufene Professorinnen und Professoren neben langjähriger und einschlägiger Praxis auch noch möglichst fachnah promoviert haben und damit eine entsprechende wissenschaftliche Expertise mitbringen. Doch woher die Anwärter nehmen, wenn das Fach noch fast nirgends gelehrt wird? Warum dies aktuell noch gar nicht einmal als Problem aufgetaucht ist, liegt wohl daran, dass die vorhandene Professorenschaft die in Probevorlesungen vorgetragene Fachkompetenz in der Regel nicht vollumfänglich beurteilen kann. Wie auch – das Lehrgebiet sowie die wissenschaftlichen Erfahrungen sind völlig neu und gerade für viele ältere Professoren ein Buch mit mehr als sieben Siegeln. Die Praxis ist der Theorie in diesem Gebiet aktuell scheinbar uneinholbar voraus. Trotzdem ist es andererseits gut, wenn eine Hochschule für einen stabilen Ausbildungsplan sorgt und auch nicht jedem Trend aus der Praxis sofort unreflektiert hinterherzulaufen versucht.
„Kann ein ganzer Studiengang über sieben Semester mit nur einer gestifteten Kernprofessur gelingen?“
Info
Jena – Lichtstadt, wie sie sich selbst nennt – hat als die zweitgrößte Stadt Thüringens nach Erfurt für seine Studenten aber auch einiges zu bieten. Mit knapp 106.000 Einwohnern, denen ca. 26.000 Studenten angehören, wird es wohl nie langweilig. Zahlreiche gemütliche Bars rund um Jenas bekannte Wagnergasse sind immer einen Besuch wert. Auch die Hochschule selbst bietet ihren Studenten neben den reinen Vorlesungen gute Kontakte für den Einstieg in die spätere Berufswelt. Um seinem Bewegungsdrang nachzukommen und einen Ausgleich zum Studium zu finden, bietet die Ernst-Abbe-Fachhochschule ihren Studenten einen Hochschulsport an, der von Aerobic über Fußball bis hin zu Yoga fast alles umfasst.
Wie es scheint, ist dieser Spagat in Jena noch nicht vollständig gelungen. Der Infoflyer des Studiengangs verspricht zwar viel, lässt aber auch einige Fragen offen. „Die Kernkompetenzen des E-Commerce garantieren unmittelbare Einsatzmöglichkeiten in allen Bereichen des E-Business: In Behörden (E-Government), Finanzinstituten (E-Finance), Dienstleistungsunternehmen (E-Services), Beratungsunternehmen (E-Consulting), Gesundheitseinrichtungen (E-Care) und im Bildungswesen (E-University, E-Learning)“, heißt es dort. Wenn man dieses Angebot mit den bereits in der Website Boosting vorgestellten gleichnamigen Studiengängen in Würzburg und Wedel vergleicht, wird schnell klar, dass hier offenbar ein völlig anderer E-Commerce gemeint ist bzw. gelehrt wird.
Mathematik, Grundlagen Informatik, Einführung Wirtschaftswissenschaften – das alles sind Fächer, die man erwartet und sicherlich auch als Wissensbasis braucht. Was man allerdings mit Vorlesungen „Grundlagen industrieller Prozesse und Technik“ (mit „Stoff- und Energieflüsse in Prozessindustrie und Energieproduktion“), Elektrotechnik (Zweigstrom-, Knotenpotential- und Maschenstromanalyse; Elektromotor) oder auch „Internationale wirtschaftliche Integration“ (mit WTO, IWF, OECD und EU) als späterer Absolvent im Bereich E-Commerce anfangen soll, bleibt dem Betrachter zunächst unklar. Auch lässt die Detailbeschreibung von Kernfächern vermuten, dass man hier aus vielen Vorlesungstöpfen anderer Fakultäten etwas zu einem neuen Studiengang zusammengemixt hat.
Ein Beispiel: Das Modul Marketing/Online-Marketing ist in zwei Untermodule geteilt: Marketing und Online-Marketing. Die Qualifikationsziele lesen sich allerdings eher wie die einer leicht modifizierten traditionellen Marketingvorlesung, wie sie seit dreißig oder vierzig Jahren überall in der Betriebswirtschaft gehalten werden:
„Die Studierenden sollen ausgehend von marktlichen Bedingungen Instrumentarien der absatzgerichteten Analyse und Entscheidungsfindung kennen lernen. Hierbei bildet die Integration von Markt- und Ressourcenperspektive die inhärente Grundlage für die Ableitung ganzheitlicher Konzepte der marktorientierten Unternehmensführung. Die Kenntnis der Grundlagen des Marketings und der spezifischen Anwendungsfelder des Online-Marketings versetzt die Studierenden in die Lage, ganzheitliche Strategien herzuleiten und operative Maßnahmen erfolgsbasiert zu verargumentieren. Eine Schwerpunktsetzung liegt in der Anwendung von Methoden sowie in der Analyse und Bewertung von Entscheidungssituationen im Zusammenhang mit Neuen Medien und netzbasierten Wertschöpfungsprozessen.“
Abbildung 1 zeigt den aktuellen Studienaufbau von oben nach unten im Überblick. Erstaunlicherweise gibt es keine als E-Commerce ausgewiesenen Kernfächer, sondern nur solche, die dem E-Business (gelb) zugeordnet werden – was ja durchaus etwas anderes ist. Im Profil des für den neuen Studiengang verantwortlichen Dozenten ist „NEU: eCommerce ab 2013“ zu lesen. Unter Berufserfahrung wird u. a. angeführt: „Entwicklung und Auswertung akustischer und elektrischer Messverfahren zur Früherkennung molekularer Zerstörungen (micro-cracks) in Hochspannungsisolierungen“ und Tätigkeiten im Industriekombinat Robotron und Mikroelektronik. Vor der Professur war er Leiter der Medizintechnik und Bioinformatik am Marienstift Arnstadt. Dies bedeutet natürlich nicht zwangsläufig, dass nicht genügend Erfahrung im E-Commerce vorhanden wäre. Aber auch hier wären mehr einschlägige Informationen zur Einschätzung für Studieninteressierte sicher eine wertvolle Entscheidungshilfe.
Auf der Website spricht man davon, dass man als Studierender bei namhaften Professoren und exzellenten Praktikern forschen würde. Das liest sich vorbildlich. Allerdings bleiben sowohl der Flyer als auch die Webseiten die Nennung solcher Namen oder eine Konkretisierung schuldig.
Mit den Studienfächern wie Shop-Management, Qualität und Analyse im Web sowie Web-Engineering und verteilte Systeme sind jedoch einige Module im Plan des Studienaufbaus enthalten, welche direkt auf die im Flyer erwähnten späteren Einsatzgebiete abzielen. Diese werden genannt mit: Shop-Manager, Content-Manager, Online-Marketing-Manager und weitere. Für einen guten Einstieg wird mit Sicherheit die Basis-Vorlesung E-Business im ersten Semester sorgen.
Nichtsdestotrotz muss hier wesentlich deutlicher eine klare Richtung eingeschlagen werden, die auf E-Commerce abzielt und Unwesentliches außen vor lässt. Bei einem völlig neuen Studiengang ist verständlicherweise auch etwas „Try & Error“ dabei, sodass sich dies über die nächsten Semesteranfänge durchaus noch verbessern lässt und wie jeder neue Studiengang noch seinen Feinschliff erhalten wird. Es bleibt zu hoffen, dass zumindest der Flyer eine schnelle Überarbeitung erfährt und auch die Uneinigkeit beseitigt wird, wie E-Commerce zu schreiben sei. Dies geht leider d´accord mit dem restlichen Eindruck, den der Flyer vermittelt. Durch viele, für eine Hochschule unübliche, Rechtschreibfehler wirkt das ganze Vorhaben in der momentanen Außendarstellung ein wenig überhastet und zumindest mit warmer Nadel gestrickt. Dennoch ist es wichtig und richtig, sich als Hochschule in diesem Bereich zu engagieren und zu forschen. Viele werden in den nächsten Jahren nachziehen und dann wird sich die FH Jena bereits einen Vorsprung durch erworbene Kenntnisse und Erfahrungen aufgebaut haben.
Dem späteren Erfolg der dort Studierenden wird das aber sicherlich keinen Abbruch tun. Die Wirtschaft saugt derzeit und sicherlich auch noch auf absehbare Zeit gierig alles auf, was „E-Commerce“ in ein Bewerbungsschreiben setzen kann, ganz egal, wo und was man nun genau studiert hat – und ob man es korrekt schreibt oder nicht.
Mehr Infos unter www.wi.fh-jena.de/wirtschaftsingenieurwesen/studiengang/bsc-e-commerce