Shitstorm: Orkan oder laues Lüftchen?

Joachim Gerloff
Joachim Gerloff

Joachim Gerloff ist Online-Redakteur und Texter bei der Full-Service-Internet-Agentur NEXUS Netsoft GmbH in Langenfeld bei Düsseldorf. Als Master of Arts im Fach Medienkulturanalyse und dank jahrelanger Erfahrung in den Bereichen Online-Marketing, Texterstellung und SEO berät er Kunden hinsichtlich SEO-Strategien und suchmaschinenoptimierter Content-Erstellung.

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„Ich werde husten und prusten und dein Haus zusammenpusten“, stammt zwar aus einem Kindermärchen, jedoch ist es ein Zitat, mit dem sich viele Shitstormer identifizieren werden. Unter großer medialer Aufmerksamkeit in den sozialen Netzwerken geht es ums Schimpfen, Meckern, Kritikäußern und Luftrauslassen – gern gegen große Unternehmen. Und heutzutage kann es jeden treffen: Kaum jemand kann sich der öffentlichen Kritik bei Facebook, Twitter und Co. entziehen. Doch was noch vor einem Jahr für Panik in den Führungsetagen sorgte, wird heute eher als laues Lüftchen eingestuft. Es stellt sich die Frage: Ist ein Shitstorm noch relevant für das Online-Marketing oder gar für die generelle Unternehmensdarstellung?

Der Shitstorm fegt über Deutschland hinweg. Mal trifft es den E-Commerce-Riesen Amazon, der wegen der Arbeitsbedingungen an den Pranger gestellt wird, ein anderes Mal ist es die Geflügelschlachterei Wiesenhof, deren Hygienevorschriften ebenso wie das Sponsoring durch einen Bremer Fußballclub kritisiert werden. Der Shitstorm macht vor nichts und niemandem halt – auch nicht vor der Telekom, der Direktbank mit Dirk Nowitzki als Werbefigur oder der Deutschen Bahn. Die sozialen Kanäle schwappen über von Kommentaren, Boykottaufrufen und bösartigen Äußerungen.

Es geht um mediale Aufmerksamkeit

Der Shitstorm ist, wie der Name schon sagt, ein Sturm der Entrüstung (man verzeihe den Verzicht auf die korrekte Bezeichnung), der ausschließlich im Internet stattfindet. Auf sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter, aber auch in Blogs oder auf Websites mit Kommentarfunktion gibt es eine massenhafte Beteiligung an Diskussionen zu einem umstrittenen Thema. Die mediale Aufmerksam führt dazu, dass viele Menschen ihre unterschiedliche Meinungen kundtun möchten – unsachliche Beiträge bis hin zu Beleidigungen bleiben entsprechend nicht aus. Anders als bei klassischen Medien wie Zeitung oder Fernsehen hat der User kein Sprachrohr, das die Stimmen zu einem Thema sammelt und aussortiert. Dank sozialer Netzwerke und Blogs erreicht der User ein relativ großes Publikum und kann seinem Ärger freien Lauf lassen – und bekommt entsprechend Aufmerksamkeit.

Medienpsychologisch ist der Shitstorm ein interessanter Fall. Dr. Sonja Utz, Leiterin der Nachwuchsgruppe ERC – Social Media des Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM) in Tübingen, sagt: „Insbesondere in den sozialen Medien wie Facebook und Twitter spielen die Anonymität der User und ein vermeintlich gemeinsames Interesse eine entscheidende Rolle. So bilden die Beteiligten eine Ingroup, in der eine harsche Ausdrucksweise quasi zur Norm wird“. Pöbeln als Habitus – in der Hoffnung, dass man gemeinsam etwas Großes schafft.

Ein Shitstorm in Zahlen gepackt

Das Internet vergisst nicht. Doch was ist mit der schnelllebigen Internetgesellschaft, die tagtäglich einer Datenflut gegenübersteht? Angesichts dutzender Statusreports auf Facebook, interessanter Tweets auf Twitter oder Blogbeiträge ist es schwer, die tatsächliche Reichweite eines Shitstorms nachzuverfolgen. Andreas Köster, Consultant bei der BIG Social Media GmbH in Berlin, hat dies versucht und die sogenannte  Shitstorm-Matrix” (siehe Abbildung 1) entwickelt. Mit dieser Grafik lässt sich die Intensität einer Empörungswelle in drei Dimensionen abbilden:

  • Dauerhaftigkeit

Unter dem Begriff „Persistenz“ wird die Zeit bewertet, in der ein Post verfügbar ist. Während Tweets schneller wieder verschwinden, sind Blogbeiträge länger erreichbar und haben einen stärkeren Einfluss auf die Suchmaschinen.

  • Ausmaß

Dieser Wert zeigt an, wie viele Beiträge während des Shitstorms im Vergleich zum normalen Beitragslevel entstanden. Es wird quasi festgehalten, wie stark die Anzahl der Beiträge über ein Unternehmen zugenahm.

  • Sichtbarkeit und Reichweite

Hierbei werden die Sichtbarkeit und die Reichweite der Quellen bewertet, auf denen die kritischen Äußerungen platziert wurden. Ist die Website im Internet bekannt, kann der Shitstorm kritischer eingestuft werden.

Je größer die drei Werte in der Shitstorm-Matrix sind, desto höher der dadurch entstandene „Schaden“. Bewusst werden hier die Anführungsstriche verwendet, denn nachzuweisen ist dies nur schwer. Ohne Zweifel kann ein Shitstorm das Branding eines Unternehmens angreifen und dieses nachhaltig ankratzen. Bei den Suchmaschinen wie Google begutachten Online-Marketing-Experten das Thema kritisch.

Shitstorm-Beispiel #1: Dell

Ein Urgestein der Shitstorm-Ära ist der Dell-Sturm, der von dem amerikanischen Blogger und Journalismus-Dozenten Jeff Jarvis losgetreten wurde. Seinen Frust über den Kundenservice und die Produkte des Computerherstellers schrieb er zusammen und postete dies – und viele weitere Nutzer schlossen sich an. Der Shitstorm bekam sogar einen eigenen Namen: „Dell-Hell“. Auch fernab des Internets berichteten weltweit die TV- und Printmedien über die sogenannte Dell-Hölle. Die negative Aufmerksamkeit machte sich auch bei den Verkäufern bemerkbar: Was anfangs als ein unzufriedener Kunde abgestempelt wurde, stellte sich schnell als Motz-Masse heraus.

Dell ließ sich das Krisenmanagement einiges kosten. Laut „Die Welt“ investierte das Unternehmen rund 150 Millionen US-Dollar in die Lösung des Problems und engagierte Spezialisten, die Facebook, Twitter und Co. nach kritischen Kundenstimmen durchsuchten, um schnellstmöglich reagieren zu können. Doch mit diesem aufwendigen Verhalten gelang es Dell, die Kritiker zu beruhigen und die Absätze vorläufig zu stabilisieren.

Shitstorm-Beispiel #2: Amazon

Nach dem ARD-Beitrag „Ausgeliefert! Leiharbeiter bei Amazon“ braute sich in den sozialen Netzwerken etwas zusammen. Die Reportage vom 13. Februar 2013, die sich mit den Arbeitsbedingungen der Leiharbeiter in den Logistikzentren des E-Commerce-Giganten beschäftigte, sorgte für Empörung auf der Facebook- und Twitter-Seite von amazon.de. Die User ließen ihrer Enttäuschung und Wut freien Lauf und es hagelte Kritik von allen Seiten. Vom sehr dezenten „Bin schwer enttäuscht“ bis hin zu beleidigenden Äußerungen wie „Schweinerei“ oder „Nazi-Freunde“ – es herrschte ein wildes Potpourri an negativen Meinungen, die selbstverständlich einer breiten Masse zugänglich gemacht wurden (siehe Abbildung 2).

Und die ersten fragten sich, wie sich das auf Amazon, dessen Image und dessen Geschäft auswirken würde, auch weil der Konzern im Netz eigentlich gar nicht reagierte. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.

Geringe Auswirkungen auf Facebook

Viele SEO-Experten nahmen den Amazon-Shitstorm als Anlass genommen, die tatsächlichen Auswirkungen zu untersuchen und zu analysieren. Die Ergebnisse decken sich größtenteils und zeigen: Wo früher noch mit massiven Fan-Verlusten und einem unwiderruflichen Imageschaden gerechnet wurde, unterstreichen die nackten Zahlen: Pustekuchen statt Sturmtief! Der Berater und Dozent Thomas Hutter beschreibt in seinem Blogartikel (http://einfach.st/amasht; Stand Juli 2013) den Effekt des Shitstorms auf die Fan-Zahl der Amazon.de-Unternehmensseite auf Facebook. Statt der angekündigten Boykottaufrufe hat Amazon bis heute sogar Fans dazugewonnen (Februar: circa 2,8 Millionen Fans, Juli: 3,1 Millionen Fans). Zwar sei der Zuwachs an Fans unmittelbar nach Beginn des Shitstorms gesunken und ins Minus gerutscht (siehe Abbildung 3), jedoch sieht eine nachhaltige negative Tendenz anders aus.

Der Verlauf macht zwar deutlich, dass amazon.de während des Shitstorms zeitweise an Fans verlor, „jedoch wie viele Fans aufgrund laufender Marketingaktionen dazugekommen und wie viele Fans infolge des Shitstorms abgesprungen sind, kann nicht genau eruiert werden“, stellt Hutter fest.

Negative Werbung ist auch Werbung

Wieso etwas unternehmen, wenn sich das Problem von selbst löst? Diesem Grundsatz scheinen die vielen Geschäftsführer und Marketingabteilungen spätestens seit den großen Shitstorms der vergangenen Monate zu folgen. Verfolgt man die Grundgedanken, scheint dies auch außerordentlich logisch. Ein Shitstorm stellt für ein Unternehmen nichts anderes als eine große Blase an Aufmerksamkeit dar – und Besseres kann marketingtechnisch nicht passieren. Vor allem so prominente Sturmopfer wie Amazon, Wiesenhof oder die ING Diba wissen, dass sie im Internet eine große Fan-Basis haben. Die Schnelllebigkeit der sozialen Netzwerke kommt dieser Strategie zugute. Spätestens nach ein paar Wochen sind die negativen Beiträge ohnehin so weit nach hinten gerückt, dass sie kaum noch Beachtung bekommen.

Jede Kritik ist ernst zu nehmen

Auch wenn hier der Eindruck aufkommen mag, dass ein Shitstorm kaum Auswirkungen auf das Online-Marketing oder das Branding eines Unternehmens hat, ist er doch ein eindeutiges Signal für das Kundenmanagement. Der Kunde ist König und dieser Leitsatz gilt auch für das Internet. Ganz gleich, ob der Ton eines Facebook-Kommentars unangemessen war oder Sachverhalte verfremdet dargestellt werden: Kritikpunkte sollten in aller Ruhe analysiert werden. Der Shitstorm stellt nicht nur einen verheerenden Rundumschlag des Users dar, sondern kann auch als frische Brise für das Unternehmen verstanden werden. Nähert man sich der Krise mit der richtigen Strategie, kommt das Unternehmen womöglich sogar gut aus der Sache heraus und stärkt die Bindung zu seinen Kunden.

Regt der User sich beispielsweise bei Facebook über einen unfreundlichen Servicemitarbeiter auf, kann eine positive Reaktion auf diese konstruktive Kritik oft helfen. Letztlich geht es darum, dass der User sich ernst genommen fühlt. Die drei Ls des Shitstorms sollten dabei beachtet werden:

  1. Lieb sein: Höflichkeit zahlt sich auch im Bereich Social Media aus. Auch wenn manche Kommentare unter der Gürtellinie sind: Unternehmen sollten es tunlichst vermeiden, zurückzupöbeln.
  2. Lachen: Humor entschärft die ein oder andere Situation. Wichtig dabei ist es, die Brücke zwischen Witz und Auslachen zu schlagen. Der User sollte sich auf keinen Fall auf den Arm genommen fühlen.
  3. Löschen verboten: Viele Unternehmen verfolgen bei der Pflege des Social-Media-Profils das Motto, dass störende Kommentare und Beiträge entfernt werden. Dies sollte aber vermieden werden. Die Erfahrung bei zahlreichen Shitstorms hat gezeigt, dass die Shitstorm-Szene auf solche Aktionen allergisch reagiert.

Kritik ist natürlich. Speziell im World Wide Web ist es nicht zu vermeiden, negative Äußerungen über sein Unternehmen zu erhalten. Mit dem richtigen Social-Media-Krisenmanagement kann diese Sturmkraft, die ein Shitstorm im Social Web entfalten kann, ganz einfach auffangen werden.

Prominentes Beispiel: Anna von Telekom_hilft

Dass Krisenmanagement im Shitstorm auch amüsant sein und sich äußerst positiv für das Unternehmen auswirken kann, zeigt der Fall von Telekom-Mitarbeiterin Anna, die sich gegen den berühmten Griesgrämer behaupten musste. Er ist bekannt unter der Netzgemeinde als User, der gern, viel und leidenschaftlich pöbelt – und das, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Doch Anna konnte das notorische GROSSGESCHREIBE sehr gut auffangen und erntete mit ihrer frischen Art Lob und Anerkennung (siehe Abbildung 4).

Für das Branding der Telekom gab die Unterhaltung zwischen Anna und dem Griesgrämer einen positiven Aufwind. Vor allem in Zeiten der geplanten Drosselung der DSL-Verbindungen war dies eine sehr gute Ablenkung, insbesondere in der sonst so wütenden Internetwelt.

Auf die Frage, was die perfekte Reaktion auf eine Welle der Entrüstung ist, gibt es keine pauschale Antwort. So individuell, wie sich jeder Shitstorm entlädt, genauso persönlich sollte das Krisenmanagement eines Unternehmens reagieren. Feststeht: Vor allem große Unternehmen können sich ein Aussitzen nach dem Motto „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ leisten, doch was bleibt, ist ein fieser Nachgeschmack. Wiesenhof? War da nicht etwas mit ‘nem Shitstorm? Eine Reaktion ist die wohl charmanteste und auch persönlichste Variante, um einem Shitstorm – und somit seiner unzufriedenen Kundenbasis – entgegenzutreten. Denn das, was den Shitstorm ausmacht, ist die Anonymität des World Wide Web, hinter der sich die User verstecken können. Zeigt das Unternehmen hier Gesicht und stellt sich in einem offenen Dialog mit Mut und Witz der offenen Kritik, kann so ein Sturm der Scheiße (hier ist nun das Sch…-Wort) auch zu einem echten Candy-Storm werden.