Wiener Schmäh oder Chatbots international?

Michael Müßig
Michael Müßig

Michael Müßig ist Professor an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt und wirkte für die Fakultät Informatik und Wirtschaftsinformatik entscheidend am Aufbau einer Hochschulkooperation mit der Christ University Bangalore mit. Im Rahmen eines erneuten Aufenthaltes im Februar 2011 nahm er unter anderem am Social Media New Face of Marketing teil und lernte dabei Suresh Babu als einen der führenden Webmarketiers Indiens kennen.

Mehr von diesem AutorArtikel als PDF laden

Im letzten Jahr fand mit der ersten ChatbotCon in Wien nur zwei Wochen nach Austin/Texas die erste europäische Konferenz zu Chatbots überhaupt statt. 2017 war sicher wieder ein voller Erfolg, auch wenn man den Platz der teilnehmerstärksten Veranstaltung in diesem Jahr an den Chatbotsummit in Berlin abgeben musste. Alles nur ein Hype? Oder verbirgt sich hinter dem Thema ein langfristiger Trend, der auch im Online-Marketing berücksichtigt werden sollte?

So testet der ERGO-Konzern unter der Marke nexible neue Möglichkeiten der Kundenkommunikation, nutzt den Chatbot aber aus Sicherheitsgründen ausschließlich auf der Website und nicht in einem Messenger. Das Training des Bots folgt einer leicht adaptierbaren Methodik: Das Backend schlägt auf Basis der Anfrage des Users eine Antwort vor, ein echter Mitarbeiter gibt diese dann frei, wenn sie passt. Bei beliebig vielen Schleifen kann dann eine genügend hohe Antwortsicherheit errechnet werden und die manuelle Freigabe unterbleibt. ERSTE BANK hat in GEORGE, der Netbanking-Applikation, ebenfalls Chattechnologie integriert. „Welche App kann ich dann löschen“ ist ein wesentlicher Anstoß für die Nutzung von Chatbots, die sich laut David Pichsenmeister vom Veranstalter orat.io in drei Kategorien einteilen lassen: reine Questions & Answers, geführte Konversationen entlang des Webseiten-Menüs und echte Kommunikation, die zielgerichtet zu einer Problemlösung führt. Vom Einsatzgebiet her sind diese genau in zwei Feldern zu monetarisieren – Customer-Service und Marketing – wobei die Meinungen auseinandergehen, ob im zweiten Fall nur das weitere Befeuern von Apps und Websites Früchte trägt oder Conversion auch im Chat stattfinden kann. Aber auch geschickte Kombination sind gefragt und können sich rechnen: Während bei einer reinen Callcenter-Lösung ca. 30-40 min bis zur Herstellung der Kundenzufriedenheit benötigt werden, lässt sich dieser Wert auf ca. 13 min reduzieren, wenn man den Call über einen Chatbot im Kundendialog vorbereitet hat. Und wenn man den Bot-Barcode zum Einscannen dann noch am Point of Problem hinterlässt, dann sind eine schnelle Kundenkommunikation und der Abschluss einer Reisegepäckversicherung direkt am Check-in des Flughafens machbar. Bei seiner Eröffnungspräsentation betont David Pichsenmeister, welch großes Potenzial Chatbots im Bereich Customer-Service definitiv haben. Mit einer Umfrage unter Nutzern, inwieweit Customer-Service generell verbessert werden könnte, demonstriert er die Chancen von Chatbots. 60 % wünschen sich einfacheren Zugang zu den Online-Kanälen, 53 % hätten gern schnellere Antworten, 29 % erwarten eine konsistente Erfahrung über alle Kanäle und 19 % eine bessere mobile Nutzung.

„The future of consumer tech is conversations; Build Experiences that are rich, engaging, personalized and shareable.“

Und er belegt dies mit einem Beispiel von United: „In December, United´s AutoPilot handled 10 % of all incoming volume and improved response time by 22 %.“ Dabei werden nach seiner Ansicht in Zukunft die schnellen Wechsel zwischen privater Messenger-Kommunikation, sharen der Zwischenergebnisse an seine Follower und damit deren Animation, dann ebenfalls in eine Konversation im privaten Messenger einzutreten, Retention-Rate und Traffic wesentlich beeinflussen. Marketing, Loyalty und Customer Care sind die Bereiche, in denen Marken mit Chatbots punkten können.

Das Thema User Experience bei Chatbots wurde von Lauren Galembiewski von Voxable aufgegriffen: „Good conversational UX means making bots good conversationalists.“ So ist das Schlagwort „Conversational Design“ vor allem interdisziplinär und verbindet Experten von Entwicklern bis hin zu Content-Managern. Außerdem soll das „Jobs to be done“-Framework dabei helfen, den Fokus richtig zu setzen und einen Chatbot mit echtem Mehrwert zu kreieren. Eine sogenannte „Conversational Map“ hilft dabei, Gesprächsverläufe zu visualisieren und Sackgassen in der „Conversational Journey“ aufzudecken. Essenziell ist so eine Struktur auch, um mehr Kontext in den Chatbot zu integrieren. Diese Fähigkeit, sich an Inhalte zu erinnern, ist ein ausschlaggebender Faktor bei der UX von Chatbots. Wichtig ist auch, klar zu kommunizieren, welche Informationen der Chatbot zur Verfügung stellen kann, damit die Nutzer keine falschen Erwartungen und Vorstellungen in das Gespräch mitbringen. Eine weitere Erkenntnis ist, dass ein starker Chatbot-Charakter Vertrauen und Empathie aufbaut und damit essenziell für die Nutzererfahrung ist. Ashley D’Arcey, die Gründerin des bekanntesten Facebook-Chatbots Poncho, macht aus ihm eine Wetterkatze mit vielen persönlichen Qualitäten. Dabei wurde für den Avatar extra ein eigenes Profil erstellt, das die Persönlichkeit von Poncho beschreibt. Zum Beispiel:

  • Geschlecht: männlich
  • Spezies: Hauskatze
  • Körpertyp: Nicht zu dick, nicht zu dünn, treibt keinen Sport
  • Hobbies: Urlaub, Trinken von Kaffee und Alkohol, TV, Pizza essen

Zusätzlich wurde eine Charakter-Bibel erstellt. In dieser wird beschrieben, dass Poncho beispielsweise nicht immer für den User verfügbar ist, niemals gemein sein würde und stets des Users Freund ist. Außerdem versucht Poncho, sein typisches Katzenverhalten zu unterdrücken. Nach Ashleys Vortrag wurde vor allem eins klar: Die meiste Arbeit steckt im Design des Chatbots.  

Info

Veranstalter dieser Konferenz war wie im Vorjahr die Firma oratio aus Wien. Oratio ist eine Plattform, die es Firmen ermöglicht, ihre Kundenkommunikation über Messenger-Kanäle zu organisieren. Bei der Premiere letztes Jahr waren ca. 400, dieses Jahr mit dem Community-Day am Vortag ca. 500 Teilnehmer aus dem deutschsprachigen und zu einem relevanten Teil auch aus dem internationalen Chatbot-Umfeld. David Pichsenmeister ist stolz, echte Top-Speaker der führenden Messenger-Netzwerke und Unternehmen nach Wien gebracht zu haben. Im Rahmen des Community-Days am 2. Oktober wurde auch der erste Wiener Facebook-Developer-Circle unter Moderation von Natalie Korotaeva abgehalten, bei dem es auch in Zukunft nicht nur um Bots und Messenger gehen wird und der vom Konzept in weiteren europäischen Städten etabliert werden soll. Die Events werden von Facebook unterstützt und von ehrenamtlichen Developer Circle Leads gemanagt. In Deutschland gibt es erst einen solchen Circle – aus welchen Gründen auch immer in Oldenburg. Ebenfalls stark engagiert war Facebook mit dem fbStart-Programm, das speziell für Start-ups auf der ganzen Welt aufgelegt wurde, die – einmal aufgenommen – kostenlosen Zugang zu Tools von Facebook und Partnern wie Dropbox, Mailchimp, Stripe, Amazon Web Services oder Zendesk bekommen.

„Turing test is an outmoded way of judging bots.“ - Ashley D´Arcey von Poncho

Dieses Statement regte schon zur Diskussion an, da vor allem oft folgende Frage gestellt wurde: „Lässt man den Nutzer transparent wissen, dass er mit einem Chatbot und keinem echten Menschen schreibt?“ Diese Frage wurde mit großer Deutlichkeit bejaht.

Der Speaker Dmitriy Kachin von Chatfuel erzählte stolz, dass seine Plattform aktuell von 46 % aller Chatbots benutzt wird. Anschließend wurde der Raum von vielen Marketing-Insights begeistert. Zum Beispiel liefern Webformulare, die über Chatbots durch das Gespräch „ausgefüllt“ werden, höhere Completion-Rates als auf Webseiten –„People like answering questions in messenger.“ Außerdem können die Öffnungsraten im E-Mail-Marketing (bis zu 5 %) bei Weitem nicht mit den Messenger-Öffnungsraten (bis zu 40 %) mithalten. Die Leseraten unterscheiden sich auch stark. Bei Messenger-Nachrichten sind es 85 % und bei E-Mails gerade mal 20-30 %. Außerdem wären ein bis zwei Broadcast-Nachrichten ein gutes Maß für starkes Engagement und eine hohe Retention-Rate bei den Usern.

Google, vertreten von Michael Finkler, stellte Transaktionen im Bot in den Vordergrund, betonte aber auch den Aspekt „Getting Things Done“ mit allen Anwendungsmöglichkeiten, die im Auto oder im Haushalt gesteuert werden können. Nach seiner Ansicht werden 2019 33 % aller US-User Voice Assistants nutzen und 87 % der amerikanischen BtC-Marketing-Profis vermuten, dass Chatbots und virtuelle Assistenten eine signifikante Rolle im Marketing spielen werden.

User Expectations nach Michael Finkler:

  • Reachable anywhere
  • Available anytime
  • Know their likes and needs
  • Responds instant

Zuletzt war auch die Einbindung „künstlicher Intelligenz“ in Chatbots ein wichtiges Thema. Innerhalb eines UX-Roundtables hatte man den Konsens, dass 90 % von Deep Learning überbewertet und künstliche Intelligenz oftmals gar nicht notwendig sei. Zudem dauere ein gutes Training monate- oder jahrelang, sodass die momentane Anwendung zu früh sei. Künstliche Intelligenz ist also kein Ausschlusskriterium für eine erfolgreiche Nutzererfahrung. Ein einzigartiger Charakter, Tonalität und eine gute Informationsstruktur anhand einer „Guided Conversation“ sind wichtiger. Auch die Wissenschaft kam nicht zu kurz: Unter der unspektakulären Fragestellung „How human do we want our bots to be?“ machte Elena Churilova sehr deutlich und belegte, welchen kulturellen und stereotypen Beeinflussungen und Vorurteilen wir unterliegen – und was UX-Designer schon immer ahnten: Männer werden als autoritär wahrgenommen, Frauen als freundlicher und hilfsbereiter. Kein Wunder, dass fast alle Chatbots mit „Avataren“ weiblich sind. Wer mal abtauchen will, sollte mal in einschlägigen Suchmaschinen nach „Anthropomorphismus“ schauen. Und WIT BOT Platform zeigte auch gleich das notwendige Backend. Per Echtzeit-Sentiment-Analyse kann sich der Operator in Chatverläufe einblenden, in denen der Sprachcharakter des Users Probleme, Wut oder Konfusion vermuten lässt.

Moybo, ein kleines slowakisches Start-up, verfolgt ein völlig anderes Anwendungsszenario für Chatbots: „Chat to your Smart Home“ wurde exemplarisch durch eine mit Chatbot ansteuerbare Kaffeemaschine mit unterschiedlichen Kaffeesorten im Ausstellungsbereich vorgestellt – und sich mit Kaffee nach Wien zu trauen, ist schon eine Leistung.

Die am meisten gestellte und niemals beantwortete Frage bezog sich logischerweise auf WhatsApp: Wann wird was wie möglich sein, was verbirgt sich wirklich noch hinter den Business verified Acounts und welche Strategie verfolgt dabei die Mutter Facebook? Hier mussten sich die Konferenzteilnehmer leider ohne einen verwertbaren Hinweis auf dem Heimweg machen. Aber bis nächstes Jahr hat sich da bestimmt schon einiges entschieden. Oder?