2018 optimierten große Teile der Digital-Szene weiter eifrig ihre Websites für eine nicht existierende Zielgruppe: den rational entscheidenden Nutzer. Conversion-Optimierern, die ihre Maßnahmen an den Bedürfnissen intuitiv entscheidender Nutzer ausrichten, bieten sich für 2019 einfach zu hebende Potenziale. Dazu ist eine Erweiterung der eigenen Toolbox um ein strukturiertes Framework aus wissenschaftlich erwiesenen menschlichen Verhaltensmustern nötig. Als guter digitaler Optimierungsvorsatz für 2019 sollten sieben Praktiken ab sofort der Vergangenheit angehören.
Vergesst den rationalen User:
Sieben Optimierungsfehler, die man 2019 nicht mehr begehen muss
Dass es den Homo oeconomicus nicht gibt, wissen Sie schon? Dass Menschen zwei Entscheidungssysteme besitzen, von denen sie viel öfter das intuitive als das rationale nutzen, ist Ihnen auch nicht unbekannt? Herzlichen Glückwunsch! Sie gehören zu einer kleinen Minderheit von E-Commerce-Professionals, die sich bereits mit den tatsächlichen Grundlagen der allermeisten Nutzerentscheidungen beschäftigt hat.
Die Erkenntnis, dass wir ein rationales und ein intuitives Entscheidungssystem besitzen, wird in der Wissenschaft nicht erst seit der Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an Daniel Kahneman (2002) und Herausgabe seines phänomenalen Buchs „Thinking, fast and slow” als Tatsache akzeptiert. Mittlerweile ist unstrittig, dass unser Gehirn eine auf Effizienz und Ressourcenschonung getrimmte Maschine ist, die lieber einmal falsch entscheidet, als jede Entscheidung aufwendig rational zu durchdenken. So kommt es, dass bei rund 95 % aller Entscheidungen das intuitive System im „driver’s seat” sitzt und ein rationales Hinterfragen kaum stattfindet. Überraschenderweise sind wir bei diesen Entscheidungen nicht einmal in der Lage, sie aktiv zu beeinflussen, da sie überwiegend unbewusst ablaufen.
Wenn wir ein rationales Entscheidungssystem besitzen, könnte man nun denken, dass das andere System ein irrationales sein müsste. Das Gegenteil ist der Fall: Intuitive Denkprozesse entstehen beileibe nicht zufällig, sondern sie folgen klar definierten und immer wiederkehrenden Verhaltensmustern – den Behavior Patterns. Diese Patterns kann man sich als Schablonen unseres Handels vorstellen und somit als die heimlichen Herren unserer Entscheidungen. Es liegt auf der Hand, dass Behavior Patterns ein unglaublich wirksames Instrument sind, um das Nutzererlebnis und die Conversion-Rate positiv zu beeinflussen.
In den letzten fünf Jahrzehnten wurden an nahezu allen Top-Universitäten der Welt mit großem Aufwand neue Behavior Patterns entdeckt, erforscht und validiert. Über 100 von ihnen gelten mittlerweile als unmittelbar im Digital-Kontext anwendbar. Auch 2018 war wieder ein gutes Jahr für Praktiker, die sich für frische Erkenntnisse aus der Verhaltenspsychologie und Neurowissenschaft interessieren. Einzig: Es sind viel zu wenige! Immer noch werden fast alle Websites mit funktionalen Nutzenargumenten und vermeintlichen USPs überladen, immer noch findet man allerorten knochentrockene ellenlange Texte, immer noch werden die handlungsrelevanten Nutzerbedürfnisse nicht verstanden. Kurzum, weite Teile der Digital-Szene optimieren Websites für nur 5 % des Kundengehirns. Geld, das in die Optimierung von Oberflächen für streng rational agierende Wesen fließt, ist herausgeschmissen und sollte lieber für Schulungsmaßnahmen oder karitative Zwecke investiert werden.
„2018 war ein gutes Jahr für Praktiker mit frischen Erkenntnissen aus der Verhaltenspsychologie und Neurowissenschaft“
Das Jahr 2018 war – wie schon gesagt – ein hervorragendes für die Forschung zu Behavior Patterns. In der Praxis blieb der Durchbruch aber abermals aus. Das soll zum Anlass genommen werden, in einer Zeit, in der jeder gute Vorsätze festlegt, auf einige weitverbreitete Fehler hinzuweisen, die man 2019 nicht mehr machen sollte.
1. Strategische Entscheidungen auf Basis von Nutzerbefragungen treffen
In vielen Digital-Unternehmen ist es zunehmend gelebte Praxis, Entscheidungen mit einer Nutzerbefragung zu fundieren. Das ist keineswegs falsch – solange man die Rahmenbedingungen einzuordnen weiß, unter denen die Ergebnisse zustande gekommen sind. Das fatale an Befragungen ist: Sie liefern immer Ergebnisse. Diese werden dann häufig instrumentalisiert und als ultimativer Beweis (gerne eingedampft auf eine einzelne Zahl) präsentiert. Nachdem jetzt aber klar ist, dass Menschen in Befragungen nur das angeben können, was ihnen bewusst ist, wird auch verständlich, dass dies eben nur ein Bruchteil der Wahrheit sein kann. So zeigte kürzlich eine Untersuchung bei einem Telekommunikationsanbieter (Kundenprojekt), dass 60 % der Nutzer in einem groß angelegten Usability-Test zu Protokoll gaben, die rechtlichen Belehrungen im Check-out würden sie massiv vom Vertragsabschluss abhalten. Ein A/B-Test bewies jedoch auf Basis echter Verhaltensdaten, dass dies absolut nicht der Wahrheit entsprach. Das ist ein typisches Beispiel für das Behavior Pattern „Reziprozität”: Probanden, die ein monetäres Incentive bekommen, möchten sich (unterbewusst!) dafür revanchieren und dem Interviewer möglichst viele Optimierungspunkte präsentieren. Aus diesem Grund sollte eine Kundenbefragung immer mit Verhaltensdaten aus Experimenten gestützt werden.
Reziprozität:
das Prinzip der moralischen Verpflichtung. Tut jemand uns etwas Gutes, fühlen wir uns verpflichtet, uns zu revanchieren.
2. Mit Ab-Preisen auf Kundenfang gehen
Ob Versicherungen, Telekommunikationsanbieter oder E-Commerce-Unternehmen: Bei der Bewerbung von Produkten setzt man allerorten auf „Ab-Preise”. Das soll einen Eindruck der Preiswürdigkeit erwecken und Nutzer in den Shop locken. Tatsächlich gelingt das oftmals auch, weshalb sich diese „Conversion-Taktik” großer Beliebtheit erfreut und Nischenprodukte gerne als Ab-Preis-Lieferanten missbraucht werden. Aber was passiert dann? Sobald Nutzer mit den Preisen der tatsächlich relevanten Produkte konfrontiert werden, wird der günstige Ab-Preis als Referenzwert für die Bewertung herangezogen, wie uns das Behavior Pattern „Anchoring” lehrt.
Anchoring:
Wahrgenommene Zahlen werden als Referenzwerte – sogenannte Anker – für eine folgende Preisbewertung herangezogen. Der Kontext der Zahlenwerte spielt dabei keine Rolle.
Im Vergleich dazu erscheint das relevante Produkt dann völlig überteuert, sofortige Abbrüche sind die Folge. So kann sich bestenfalls die für Traffic-Einkauf zuständige Abteilung auf die Schulter klopfen, die Gesamt-Conversion wird dadurch aber in der Regel verschlechtert.
3. Produkte mit USPs verkaufen
USPs sind „Unique Selling Propositions”. Bereits in dem Hauptwort „Selling” drückt sich aus, dass diese Merkmale dafür gedacht sind, Produkte zu VERkaufen. Das ist ein klarer Widerspruch zu echter Kundenzentrierung: Unternehmen sollen auf ihrer Website nicht schreiben, warum sie Produkte verkaufen wollen, sondern warum Besucher sie kaufen wollen. Dieser scheinbar kleinkarierte Perspektivwechsel ist nötig, um zu verstehen, was mehrheitlich intuitiv handelnde Nutzer wirklich motiviert, einen Kauf zu tätigen. Statt USPs sollte man 2019 daher auf UVPs setzen (Unique Value Propositions), die als FABs aufgebaut sind (Feature, Advantage, Benefit). Höher, schneller, weiter alleine reicht also nicht. Ein Beispiel: Atmungsaktiv (Feature/USP) sind viele Schuhe. Trotz des dicken Winterschuhs nicht zu schwitzen (Advantage) und bei Freunden ohne Sorge vor winterlichem Käsefuß im Eingangsbereich herzlich empfangen zu werden (Benefit), macht daraus ein verständliches und handlungsrelevantes Alleinstellungsmerkmal.
4. Penner auslisten
Alle Jahre wieder ... leeren sich bei deutschen E-Commerce-Unternehmen zum Saisonwechsel die Lager. Saisonware wird dann gerne mit hohen Discounts verramscht und damit laut geworben. In gewissem Rahmen ist diese Strategie zur Senkung von Lagerbeständen und Kapitalbindung durchaus nachzuvollziehen, allerdings bringt sie gleich zwei Nachteile mit sich. Der erste ist offensichtlich: Jeder Discount vernichtet Marge und Deckungsbeitrag. Der zweite ist unsichtbar, aber umso tückischer: Wer ein stark rabattiertes Produkt aus der Vorsaison einem normal bepreisten Produkt aus der aktuellen Kollektion gegenüberstellt, wird schnell bestraft. Wenn das neue Produkt keine durchschlagenden Vorteile bietet, wird es in der Preis-Leistungs-Bewertung gegenüber dem Sale-Produkt gnadenlos verlieren. So verhagelt man sich die Zahlungsbereitschaft der Nutzer. Vielversprechender wäre, auf den „Decoy-Effect“ zu setzen und die Entscheidungsarchitektur (d. h. die Gestaltung der Auswahlsituation) so zu verändern, dass das Neu-Produkt leicht reduziert dem Alt-Produkt zum Listenpreis gegenübergestellt wird. So fällt Nutzern die Entscheidung erheblich leichter; Conversion-Rate und Warenkorb-Größe werden gesteigert.
Decoy-Effect:
Der Decoy-Effect bezeichnet das Phänomen, dass viele Menschen sich zwischen zwei gleich attraktiven Optionen A und B nicht entscheiden können (oder die günstigere Alternative A wählen).
Eine weitere Alternative wäre es, andere Wege für den Abverkauf der Altware zu finden, z. B. Marktplätze oder Shopping-Clubs, um sie nicht der beinahe identischen Neuware gegenüberstellen zu müssen.
5. Optimieren mit Trial and Error
Fehler zu machen, wird nicht mehr stigmatisiert – das ist gut so. Allerdings bedeutet das keineswegs, dass Fehler positiv sind. Trial and Error in der Conversion-Optimierung einzusetzen, ist wie Familienplanung mit Tinder: In den seltensten Fällen ist es nachhaltig und führt zu den gewünschten Ergebnissen. Conversion-Optimierung sollte daher immer darauf ausgelegt sein, möglichst wenig Hypothesen zu testen, die keinen Conversion-Uplift bringen. Dafür ist es unabdingbar, die Nutzerentscheidung ganzheitlich zu betrachten, den Problemraum der User umfassend zu strukturieren und ein Optimierungs-Framework für die gesamte Customer Journey einzusetzen. Hierbei sollten State-of-the-Art-Insights aus Psychologie und Neurowissenschaften unbedingt berücksichtigt werden, um nicht für intuitive Entscheidungsprozesse von Nutzern blind zu sein.
6. Die eigene Arbeit lieben
Bitte nicht falsch verstehen: Zu wissen, wofür man morgens aufsteht, ist die Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Performance. Aber auch E-Commerce-Professionals sind nur Menschen – und ihre Entscheidungen fallen genauso intuitiv aus wie die der User. Gerade Berufsgruppen mit hohem Selbstbewusstsein (statistisch vor allem Bänker, Ärzte, Anwälte, Manager) neigen dazu, intuitive Entscheidungen zwar bei anderen zu unterstellen, bei sich selbst aber felsenfest überzeugt zu sein, streng rational zu agieren. Wenn Sie als Leser also Ihre eigene Arbeit testen, werden Sie zwei Behavior Patterns unterliegen: dem „Labor-Love-Effect“ und dem „Confirmation Bias“. Ersterer führt dazu, dass sie Ihre eigene Arbeit heroisieren und sie im Zweifelsfall für großartig halten. Letzterer verleitet sie dazu, aus einer Menge von heterogenem Feedback nur die bestärkenden Aspekte für relevant zu halten.
Labor-Love-Effect:
Dieser Effekt beschreibt die kognitive Verzerrung, dass Menschen Dinge mehr mögen (love), zu denen sie selbst beigetragen haben bzw. Aufwand (labor) investiert haben.
Confirmation Bias:
Menschen wollen ihre Meinung nur ungern ändern und suchen lieber nach bestätigenden Argumenten für die eigene Sichtweise.
7. Nutzer mit Behavior Patterns manipulieren
Ja, es ist grundsätzlich möglich, Nutzer mit Behavior Patterns zu einem Kauf zu bringen, den sie eigentlich nicht geplant hatten. Viele Patterns sind evolutionär so tief in unseren Gehirnen verwurzelt, dass man sich der Wirkung kaum verschließen kann. Das macht es unabdingbar, dass Unternehmen sich intensiv Gedanken machen, in welchem ethisch-moralischen Rahmen sie Behavior Patterns aktiv triggern und auslösen wollen. Glücklicherweise hat diese Debatte jedoch ein hartes betriebswirtschaftliches Fundament: Jede Manipulation von Nutzern wird mit Nachkauf-Dissonanz bestraft, die sich in einer erhöhten Retouren- bzw. Storno-Quote ausdrückt und eine Kundenbeziehung oft schlagartig beendet. Für alle, die in Kundenlebenszyklen denken und an einer langfristig profitablen Beziehung interessiert sind, ist also das Gebot der Stunde: Die Entscheidungsarchitektur sollte so angepasst werden, dass Nutzer lediglich einen kleinen Schubs in die Richtung erhalten, die ihren Bedürfnissen entspricht.
Fazit
Behavior Patterns sind ein veritabler Schatz, der dieses Jahr auf der Straße liegt. Selten war es im Bereich der Conversion-Optimierung so einfach, mit einem verhaltenspsychologischen Framework die Big Points zu machen. Noch kann man sich damit einen signifikanten Wettbewerbsvorteil erarbeiten – aber nicht mehr lange: In den USA gilt Conversion-Optimierung mit Behavior Patterns schon längst als der CRO-Mega-Trend.