Das WWW hat unser Leben verändert und schenkt uns unendlich viele Chancen und Möglichkeiten. Wo Gutes und Nützliches entsteht, gibt es leider oft auch Schattenseiten. Vier dunkle Alltags-Szenen, die nachdenklich machen:
Abgekratzt …
Szene 1: Das Telefon klingelt. Am Apparat überflutet mich ein aufgesetzt gut gelaunter und vermutlich schlecht bezahlter Telefon-Verkäufer einer Online-Marketing-Agentur mit hohlen Verkaufsphrasen. Er bietet mir einen „Platz 1 bei Google“ an. Und erklärt mir, dass er direkt mit Google zusammenarbeite. Weist mich darauf hin, dass „Google alle Websites im Jahr nur einmal einheitlich bewertet". Und wenn ich dann sein Paket nicht gekauft habe, bin ich nicht dabei!
Ich recherchiere das Unternehmen: fatale Rezensionen. Wütende Kunden, die die Abzocke durchschaut haben und aus den Zwei-Jahres-Verträgen rauswollen. Entnervte Inhouse-SEOs, die versuchen, den angerichteten Schaden irgendwie wieder in den Griff zu bekommen. Das Unternehmen schmückt sich mit diversen Siegeln. Auch von den bekannten „guten“ Vergabestellen.
Szene 2: Auf einer Online-Marketing-Konferenz erklärt eine Sprecherin den aufmerksamen TeilnehmerInnen wortwörtlich, dass „auf Webseiten am besten nur das Hauptkeyword in die H1-Überschrift gehört – sonst bitte nichts anderes, wegen Google!"
Ich runzle die Stirn: Das klingt sehr einseitig. Ich würde diese Vorgehensweise auf gar keinen Fall jemandem raten. Und sehr viele KollegInnen sehen das sicher ähnlich. Ich schaue mich im Saal um: Viele TeilnehmerInnen notieren eifrig das soeben Gesagte und tragen es vermutlich genauso fleißig in ihre Unternehmen. Ich halte diese Aussage für unverantwortlich, hadere mit einem Bruch des „Do-Not-Blame-The-Speaker"-Kodex und spreche die Dame dann diskret hinter den Kulissen an. Die Reaktion: Das sei ihre beste Erfahrung, die gebe sie nur weiter. Ich spreche sie nicht noch auf die sieben weiteren Punkte an, die ich notiert hatte. „Aktives Pagerank-Sculpting mittels Nofollow“ zum Beispiel.
Szene 3: Eine Facebook-Werbung verspricht mir „eine revolutionäre Online-Marketing-Strategie“. Ich klicke darauf, um mir anzuschauen, was die bekannten Gesichter aus der „Schnell-und-hektisch-reich-Faktion“ Neues ausgeheckt haben.
Nach dem Klick kann ich einen Termin für ein „Live“-Webinar auswählen: Ich entscheide mich für die Variante nachts um 3 Uhr. Das Webinar beginnt und füllt sich schnell mit fast 40 (!) interessierten „Teilnehmern“ (m/w/d/ascii), die auch rege auf den Präsentator und seine Fragen reagieren. Ich frage mich, was diese Inszenierung soll. Ein Blick in den Source-Code der Seite zeigt mir: Das ist alles einfach nur gescriptet. Ich bin allein im „Live“-Webinar.
Szene 4: Wir schreiben das Jahr 2019. Die DSGVO steckt jedem noch in den Knochen. Eine „Online-Marketing-Expertin" teilt auf Facebook stolz ihre Ergebnisse des Nametest-Spiels. Einige Zeit später schiebt sie noch die #10YearsChallenge über den Nametest-Klon „LOL" hinterher. Dass sie den Betreibern darüber weitreichende Rechte einräumt, sei ihr egal. Dass sie den Betreibern auch massiv Informationen über alle Personen gibt, die mit ihr digital verbunden sind, ist ihr ebenfalls egal.
„Meine Daten sind nicht so interessant", und: „Ich hab nix zu verbergen." Das sind aus meiner Sicht die vorbildfreien Aussagen von „Impfgegnern des digitalen Zeitalters“!
Sollten wir mit schwarzen Schafen und grobem Unsinn nicht deutlich direkter und offener umgehen? Weshalb fassen wir Zertifikats-Stellen mit Samthandschuhen an, die betrügerische Unternehmen mit einem Siegel „legitimieren“? Ist das die digitale Welt, in der wir die Zukunft des WWW gestalten wollen?