Als Suchmaschinen-Optimierer hat man es nicht leicht. Die meisten Menschen da draußen mit ihren traditionsreichen Berufen wie Maurer, Maler, Mediziner oder Modedesigner haben keine Ahnung, dass es uns gibt. Die meisten kennen nicht einmal den Unterschied zwischen bezahlten und organischen Suchergebnissen. Dennoch nutzen Sie alle – ausnahmslos – jeden Tag Google. Trotzdem leben wir ein Leben im Verborgenen. Wenn erkannt, dann werden wir doch verkannt. Wem ist das nicht auch schon einmal passiert, dass man im Familienkreis am weihnachtlich geschmückten Tisch den wiederholten Erklärungsversuch startet, was dieses SEO eigentlich ist und womit man genau sein Geld verdient? Spätestens, wenn verwirrte und völlig absurde Nachfragen kommen, was man denn genau jeden Tag da hinter dem Rechner täte – ja, spätestens dann ist man froh, wenn die Weihnachtsgans um die Ecke getragen wird. Dass kritische Informationshappen trotz Gans und Rotwein in den Köpfen hängen bleiben, zeigt sich dann spätestens am nächsten Tag, wenn die buckelige Verwandtschaft erwartet, dass der uralte PC mit Windows 97 quasi per Handauflegen repariert wird: „Du kennst dich doch aus mit dem Computer!“, wird einem halb selbstverständlich und halb herausfordernd entgegengeschleudert.
SEO: Eine Branche professionalisiert sich
In anderen Kreisen stößt man auf deutlich mehr SEO-Sachverstand. In der hippen Start-up-Szene, beim Unternehmer-Stammtisch um die Ecke oder in der Wir-sind-alle-hip-Networking-Party kennt man Suchmaschinen-Optimierung genau. Das gefährliche Halbwissen schleicht förmlich sichtbar umher wie ein Löwe, der sich in der Savanne an die kränkelnde Gazelle heranpirscht. So richtig cool kommt man dabei aber als SEO nicht weg. Diesem SEO haftet ein unlauterer, hinterhältiger, teils verwegener Ruf an. Aber kann man es der ahnungslosen Meute verdenken? Nein! Jeder SEO, der als frisch gebackene(r) Mama oder Papa einmal nach Kinderwagen-Tests suchte, spürte am eigenen Leib, was diese Branche anrichten kann. Platz 1 bis 10: Substanzlose, abgekupferte und mit WDF*IDF-optimierten „SEO-Texten“ bespielte URLs auf Keywordbasis, dass die Keyworddichte-Balken nur so krachen. Und das Ganze natürlich noch in das Affiliate-Theme ohne liebevolle Designanpassungen direkt reingeklatscht – in da face! Hallo Google? Geht’s noch? Wo ist da die Content-Offensive? Wo sind die zahlreichen Phantom- und Unknown-Updates, die genau solche Websites in die ewigen SEO-Jagdgründe schießen sollen? Nix da. Und wenn es kein Kinderwagen ist, den man ernsthaft sucht, dann ist es vielleicht einfach auch nur eine digitale Körperfettwaage. Nix da! In da face! Oder vielleicht wenigstens ein Bügeleisen-Test? In da face! Selbst für eine Spaltaxt hat irgendein SEO-Thomas aus Süddeutschland eine schicke MFA-Site aufgebaut und versorgt wohl auch noch in 100 Jahren Amazon mit Leads. Wirklich hilfreich sind diese Seiten nicht. Das erkennt der versierte SEO spätestens beim Blick auf das Impressum mit der Adresse als Bild und dem eRecht24-Standard-Text. Mein Schwiegerpapa erkennt das aber nicht! Und da wundert man sich, dass wir SEOs – nein – die ganze SEO-Branche da draußen einen schlechten Ruf hat? Richtig! Dabei wäre es doch eigentlich Googles Job, diesen und anderen Kram mal aufzuräumen. Scheint wohl doch nicht so einfach zu sein.
Eigentlich könnten wir als SEOs auch gleich kollektiv auf die Couch. Wir stehen alle in einem ambivalenten Verhältnis zu Onkel Google. Und was wird diagnostiziert? Eine abhängige Persönlichkeitsstörung vielleicht? Dafür gibt es sogar den offiziellen ICD-Code F60.7 (F40.4 oder F30.1 wären schöner gewesen, passt aber wie so oft nicht).
„Personen mit dieser Persönlichkeitsstörung verlassen sich bei kleineren oder größeren Lebensentscheidungen passiv auf andere Menschen. Die Störung ist ferner durch große Trennungsangst, Gefühle von Hilflosigkeit und Inkompetenz […] sowie durch ein Versagen gegenüber den Anforderungen des täglichen Lebens gekennzeichnet.“
Na? Erkennst du dich wieder? Wartest du noch auf Google-Updates und verlässt dich bei deinen Optimierungsentscheidungen auf andere? Hast du Trennungsangst von deinem Content? Und plagt dich manchmal das Gefühl der Hilflosigkeit, weil das mit den Rankings einfach nicht so klappt, wie du dir das vorstellst? Kein Wunder, dass man da bekloppt werden kann! Ist doch der Job eines SEOs einer der härtesten! Im Ernst! Tagein und tagaus optimieren wir. Wir analysieren. Dann optimieren wir wieder. Es gibt kein Ende. Ist das eine Jahresziel erreicht – oder eben auch nicht –, kommt gleich das nächste angerauscht. Und gleich noch mal 10 Prozent mehr, Kalle! Von dem Organischen bitte. Darf’s noch etwas sein, Chef? Ja, zwei Scheiben Conversion bitte. Die schmecken so gut. Als gestandener SEO hat man eben selten Erfolgserlebnisse – weil man selten fertig ist. Das kennt man. Eigentlich ist man nie fertig. Wer steht schon für alle Keywords auf Platz eins? Selbst wenn. Dann steh‘ doch bitte für alle Keywords demnächst auf Position Zero!
Als SEO bist du entweder irgendwann total frusttolerant oder du machst einen anderen Job. Die einen steigen auf zu Teamleitern und halten sich auf gesunder Distanz vom gefährlichen SEO-Alltag. Andere verkaufen ihre Agenturen. Die nächsten wechseln in andere Bereiche mit drei oder mehr Buchstaben. Das ist alles legitim und rechtmäßig. Oder anders formuliert: Das muss so! Wieso? Unsere Branche ist mittendrin, sich zu professionalisieren! Und das, obwohl sie noch so jung ist. Lassen wir mal die SEOs außer Acht, die angeblich schon vor dem World Wide Web Suchmaschinenoptimierung mit Lochkarten gemacht haben. Die erste Generation SEOs, nennen wir sie die Urgesteine, waren Gamer und Sammler. Sie haben täglich gegen Google gekämpft, neue Lücken und Bugs gesucht und auch gefunden. Dann haben Sie alles draufgejagt, was sie hatten. Ob es Dialer waren oder Affilate-Links. Es waren wilde Zeiten. Alles war erlaubt, vieles war möglich. Die Gruppe der SEOs war noch klein, und schaut man sich heute Bilder von diesen goldenen Zeiten an, sieht man jungen und gut gelaunten Nerds in die Augen. Frei von Sorge und voller Begeisterung. Hier gab es keine Ausbildung, keine Traineeships. Alles musste selbst entdeckt, ertüftelt und ausgeknobelt werden. Zeit war ja genug, bis Google den nächsten Google-Dance ausrollte. Aus dieser Zeit begründet sich das urambivalente Verhältnis zwischen SEOs und Google: Es geht nicht ohne Google, aber es geht immer dagegen!
Wo hier die Professionalisierung ist? Die kam – und zwar rasant! Nämlich mit den Horden von Private-Blog-Netzwerken, Link-Wheels und Link-Pyramiden und – nicht zu vergessen – dem wilden Eintragen in alle Webkataloge dieser Welt. Und wenn man seine Domain in alle eingetragen hatte, dann baute man einfach selbst Webkataloge auf. Es waren goldene Zeiten. Leider kam dann Google mit Pinguin. Bäm. Panda. Bäm. Was anfangs recht tollpatschig daher watschelte, war ein echter Game-Changer. Plötzlich war das ganze Spiel deutlich umständlicher geworden. Man optimierte nicht mehr nur. Man schlich sich aus Abstrafungen heraus – immer nur so weit, dass es gerade wieder ging. Bis zum nächsten Update. Vorbei war das schnelle und hektische Reichwerden mit SEO-Voodoo. Doch sollten noch lange Zeit Vorträge auf Konferenzen zu genau diesem Aspekt des SEOs unzählige Jünger anziehen. Der Nimbus des allmächtigen SEOs, der mit ein paar Stücken Content, Links und einem steakwürdigen Trick Horden von Besuchern generierte … manchmal sehnt man sich in diese Zeit zurück. Der Wandel hatte aber auch seine hässlichen Seiten. Die eine oder andere SEO-Agentur, die sich zuvor mit traumtänzerischen Linkkauf-Margen mehr als gut positioniert sah, musste auf einmal umschwenken. Nicht jeder schaffte es, das Personal schnell genug umzuschulen: vom Linkverkäufer zum SEO-Experten über Nacht?
Und genau hier stehen wir heute als SEOs: Die Generation G, die in einer SEO-Welt groß geworden ist, die nur noch Google kennt. Etablierte Traineeships in Agenturen und sogar vereinzelte Ausbildungen und Studiengänge bringen jungen, teils motivierten Menschen dieses SEO bei. Für viele ist es Passion, für einige ein Job wie Maurer, Maler oder Mediziner. Vorbei sind die wilden Zeiten. Vorbei sind die goldenen Zeiten. Wir sind angekommen im industriellen Zeitalter des SEO. Hier geht es um Effizienz und um Zielerreichung im Marketing-Mix der Performance-Kanäle. Wir haben uns professionalisiert! SEO ist endgültig bei Unternehmen angekommen. Teils immer noch mit einem fragwürdigen Ruf aus alten Zeiten, aber die Meute von jungen und talentierten SEOs macht sich mit ihrem Generation-Y-Eifer auf und missioniert jedes Unternehmen nach dem nächsten. Dabei wird der Wettbewerb immer härter – die Budgets immer größer. Uns SEOs freut’s! Doch nur eins haftet uns immer noch an – die ambivalente Störung zu Google. In Zeitschriften, Büchern, Podcasts, auf Konferenzen, Stammtischen, Barcamps und auch noch vereinzelt in Blogs und Foren wird wertvolles SEO-Wissen ausgetauscht, dass es kein Halten gibt. Das ist einzigartig, in keiner anderen Branche wird so offen kommuniziert. Kein Wunder. Die Nicht-Kommunikationspolitik von Google zwingt uns dazu. Und dafür sollte man dankbar sein und Google nicht verteufeln. Die Ambivalenz zeigt sich aber auch noch woanders: Wir versuchen täglich alles Menschenmögliche, um optimal mit unseren Websites für Google dazustehen. Klar – auch für die Besucher. Aber im Ernst. Uns SEOs geht es doch primär um die Rankings. Wenigstens für eine Zeit lang: Das Hochgefühl zu erfahren, wenn man mit seinem Money-Keyword endlich auf Platz eins steht. Da gibt es wenig Vergleichbares. Das war schon immer unser Problem.
Dabei weiß streng genommen keiner, was genau man tun muss, um gute Rankings zu erhalten. Alleine das Wort „erhalten“ statt „generieren“ zeigt schon die Abhängigkeit. Die einen optimieren die Ladezeit, als gäbe es kein Morgen mehr. Die nächsten verfassen holistische Landingpages, als müssten sie damit eine Brücke zum Mars bauen. Dabei weiß doch noch nicht mal Google selbst, wie die einzelnen Bewertungsalgorithmen zusammenhängen und bei welchen Anfragen welche Rankingfaktoren welche Rolle spielen. Das sollen sie uns bloß nicht weiszumachen versuchen. Das wäre ja so, als würde jeder Coca-Cola-Mitarbeiter das geheime Rezept kennen. Niemals. Die heutige professionalisierte Google-Generation hat ein ambivalentes Verhältnis zu Google: Man erwartet konkrete Hinweise für die eigene Arbeit und kämpft gleichzeitig gegen Google und alle anderen SEOs, mit denen man sich freundschaftlich und offen austauscht. Was bleibt einem auch anderes übrig? Als SEO in der industriellen Ära hat man heute keine Zeit mehr für eigene Tests, für eigene Recherchen. Kaum noch jemand bloggt über Erfahrungen. Viele SEO-Arbeiten werden heute nach Kochrezept gemacht. Die Trainee-Ausbildungen sind allzu häufig genau darauf ausgelegt. Eigener Erfahrungsaufbau? Fehlanzeige. Wozu auch? Eine Keyword-Recherche läuft eben nach Schema X. Ein Onpage-Audit nach Schema F. Es gibt Prozesse für fast alles. Und den Rest machen die zahlreichen Tools. Auch das gehört zu einer professionalisierten Branche dazu.
War früher alles besser? Nein! Heute ist es besser. Als SEOs haben wir heute so viele Möglichkeiten wie noch nie, dieses Internet zu einem besseren Ort zu machen. Wir brauchen keine unnötigen Webkataloge mehr zu befüllen, Blogs mit Kommentaren zuzumüllen oder unnötige Websites mit sinnfreien Inhalten ins digitale Nirwana zu pusten. Wir können wertschöpfende Arbeit leisten und haben dabei einen ganz entscheidenden Vorteil – wir verbinden Wissen um solide Webtechnik mit einem unheimlich wertvollen und unerschütterlichen Blick aus der Zielgruppenperspektive! Wir sind den Wandel gewöhnt – man könnte sagen, wir leben den digitalen Wandel. Im halben Blindflug mit Google sind wir unterwegs, mit begründetem Bauchgefühl gute Inhalte zu guter Sichtbarkeit zu verhelfen. Und ob das heute Google auf dem Smartphone und morgen ein quakender Lautsprecher mit vermeintlicher Intelligenz ist, spielt dabei keine Rolle. Wir werden noch in Jahrzehnten am Weihnachtstisch auf Unverständnis stoßen und die Computer unserer Verwandten reparieren. Lang lebe SEO.