Ich erinnere mich noch gut. 2002 lief es richtig schlecht. Sechzig Prozent weniger Umsatz als im Vorjahr und das alles, nachdem ein paar Idioten sich an der Börse verspekuliert hatten. Die ganze „Dotcom-Blase“ war geplatzt, alle reagierten panisch. Die Marketing-Budgets wurden über Nacht von den meisten Firmen mehr oder weniger eingefroren. Ich musste erstmals in meinem Leben Mitarbeiter entlassen. Das fühlte sich nicht gut an. Ehrlich gesagt, fühlte es sich richtig beschissen an. Es heißt, die meisten Menschen erinnern sich noch genau daran, wo sie waren, als die Bilder der einstürzenden Türme des World Trade Centers über den Fernseher flimmerten. Ich weiß es auch. Ich habe es jedoch genauso gut als Bild in meinem Kopf, wie ich die Bilder der darauffolgenden Entlassungsgespräche im Kopf habe.
Du weißt nicht, was du nicht weißt
Ein ehrlicher Erfahrungsbericht aus dem Leben eines Conversion-Optimierers
Danach folgte überraschend ein deutlich positiveres Programm. Alle verbliebenen Kollegen hielten zusammen, wir konzentrierten uns auf unsere Kernkompetenzen. Mit einem straffen Programm zur Kosteneinsparung schafften wir die Kehrtwende. Das Resultat war eine enorm hohe Motivation des gesamten Teams, alle arbeiteten Hand in Hand. Selbst in schwierigsten Situationen gab es selten negative Stimmung.
Hochmut kommt vor dem Fall
Ich dachte mir: Wow. So geht das also. Ich hatte eine Firma gerettet. Um mich herum waren namhafte Agenturen wie Silvesterböller geplatzt und in die Insolvenz geschlittert. Nur wenige Monate zuvor wussten die gehypten Agenturen nicht, wohin mit ihren Budgets, sie feierten rauschende „Launch-Partys“, wenn eine neue Website online ging. Und jetzt waren sie weg – und wir waren noch da. Manchmal konnte ich das gar nicht glauben. Eine enorme Selbstsicherheit machte sich in mir breit: „Wenn mal was schiefgeht – ich kann es retten. Vielleicht kann ich ja sogar mal anderen dabei helfen, ihre Agenturen zu sanieren.“
Das dachte ich tatsächlich.
Heute, gute 15 Jahre später, ist mir klar, was ich damals alles nicht wusste. Ich wusste nichts von Strategie, von Finanzplanung, von Content-Marketing und Sales-Prozessen. Ich wusste nicht, wie man Teams wirklich aufbaut und wie man eine zweite Führungsebene implementiert. Ich hatte keine Ahnung von Unternehmensorganisation, von Unternehmenskultur und wie man sie trotz Wachstum positiv beeinflusst. Kurzum: In Wirklichkeit war ich nicht einmal bei 20 % von dem, was ein erfolgreicher Unternehmer wissen sollte – ich fühlte mich aber unbesiegbar. Die subjektive Nadel in meinem Unternehmer-Tacho zeigte damals eher auf 120 %.
Inzwischen bin ich mir dessen bewusst, was ich damals nicht wusste. Heute weiß ich sogar, wie der Effekt, der trotz Unwissenheit zu dieser enormen Selbstsicherheit führt, heißt: Dunning-Kruger-Effekt. Der Dunning-Kruger-Effekt sagt eigentlich nichts anderes als: Du weißt nicht, was du nicht weißt. Dummerweise betrifft dieser Effekt hauptsächlich die Unwissenden. Im Gegensatz dazu haben Menschen mit einem tiefen und langjährigen Erfahrungsspektrum mehr Demut gelernt und schätzen sich fälschlicherweise als schlechter ein, als sie sind.
Das Diagramm aus der Originalpublikation von 2009 (Abb. 1) zeigt den Effekt.
Wer oft genug aufgrund von Fehlern lernen musste, dass es noch viel zu lernen gibt, der beginnt irgendwann, ein wenig „demütiger“ zu werden, und verändert die Skala der „Dinge, die ich noch lernen muss“-Messlatte. In den vergangenen 15 Jahren hatte ich so viele Aha-Erlebnisse, dass ich irgendwann aufhörte, sie zu zählen. Ich hatte das Glück, mit vielen klugen Menschen zusammenarbeiten zu können, die mir immer wieder deutlich machten, dass der Bereich, in dem ich noch lernen und mich weiterentwickeln kann, so schnell nicht endet.
„Wenn du die klügste Person im Raum bist, dann wechsle den Raum!“
Ich lernte: Es gibt nur zwei Faktoren, die die Geschwindigkeit der Weiterentwicklung von Menschen beeinflussen: Schmerz und kluge Personen, die einen umgeben. Im Idealfall ist es letzteres – wobei die Intensität der Schmerzen jeden Menschen eher Demut lehrt als das Fehlen derselben. Was will ich damit sagen? Wenn kein Grund zur Weiterentwicklung in Form eines Problems besteht, dann kümmern sich die wenigsten Menschen um ein Weiterkommen. Ich lernte, dass viele kluge Unternehmer von der Paranoia angetrieben sind, sie könnten scheitern. Sie verschlingen unzählige Bücher kluger Experten und Vorbilder und suchen immer wieder die Nähe zu inspirierenden Personen. „The 10 Habits of Successful Entrepreneurs“ heißen Hunderte Blogposts auf Content-Plattformen im Internet, bei denen es letztlich immer wieder um die Gewohnheiten dieser erfolgreichen Unternehmer geht.
Ich lernte auch, dass es Menschen gibt, die keinen Schmerz empfinden. Das mag in der einen oder anderen Situation hilfreich sein. Ich persönlich wünschte mir oft, so draufgängerisch und „mutig“ wie manch anderer Unternehmer zu sein. Doch genau diese coolen und angstbefreiten Unternehmer scheiterten dann zwei oder drei Jahre später mit ihrem Start-up. Von vielen hörte ich nie wieder etwas. War der fehlende Schmerz eventuell wohl doch Grund für eine dauerhafte Selbstüberschätzung und eine fehlende Weiterentwicklung? Vielleicht braucht es eine gute Kombination aus Bescheidenheit, Selbstbewusstsein und Realismus.
They Misunderestimated Me. (George W. Bush)
Inzwischen sehe ich immer häufiger eine Visualisierung des Dunning-Kruger-Effekts, die ich von einem anderen Modell her kenne: dem Gartner Hype Cycle. Dieses Modell sagt eigentlich die technologische Reife verschiedener Tools oder Technologien voraus. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Wer den Gartner Hype Cycle genauer studiert, der erkennt vier Phasen:
- Die Hype-Phase: Durch einen Trigger wird eine neue Technologie eingeführt. Es gibt schnell erste Erfolge – alle fühlen sich gut!
- Die Phase der Desillusionierung: Erste Probleme und Limitationen aufgrund fehlender Erfahrung machen das Vorankommen schwieriger – die Freude an der neuen Sache sinkt.
- Die Phase der Erleuchtung: Es wird deutlich, welche Fähigkeiten fehlen, um die neue Technologie wirklich nutzbar zu machen – es geht wieder bergauf.
- Die Phase der Produktivität: Alle Stellschrauben sind erkannt und es kann daran gearbeitet werden, die neue Technologie produktiv zu nutzen – Selbstsicherheit kehrt zurück.
Ich persönlich finde es sehr interessant, dass diese Phasen deckungsgleich mit den Erfahrungen sind, die jeder Mensch während seiner Weiterentwicklung von Fähigkeiten durchläuft. Mir erging es zum Beispiel beim Thema Klavierspielen ähnlich. Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, brachte mir mein Großvater die ersten Takte von Beethovens „Für Elise“ auf dem Klavier bei. Ich fühlte mich großartig! Wie ein neues Wunderkind fühlte ich mich. Ich weiß, ich war sieben und nicht vier Jahre alt., aber es fühlte sich toll an, nun auf Familiengeburtstagen etwas vorspielen zu können. Das war die Hype-Phase. Doch diese Hype-Phase endete abrupt, denn danach waren zum Vorankommen stures Üben, Notenlernen und endlose Fingerübungen nötig. Die Phase der Desillusionierung zeigte die Defizite – spätestens beim Einstudieren des dritten Satzes von Beethovens Mondscheinsonate oder einer Ballade von Chopin war Schluss. Diese Limitation fühlt sich nicht gut an, doch die Erfolgsfaktoren zum Erlernen einer neuen Fähigkeit werden deutlich. In der Phase der Erleuchtung heißt es daher: üben, üben, üben! Erfahrungen sammeln, Noten lesen lernen, Finger trainieren. Meine intrinsische Motivation reichte nie aus, um die eigentliche Phase der Produktivität beim Klavierspielen zu erreichen. Immerhin reichen meine Erfahrungen, um die nötigen Phasen der Weiterentwicklung und den Dunning-Kruger-Effekt in Einklang zu bringen.
Warum sind diese Modelle so ähnlich? Weil der Gartner Hype Cycle nichts anderes als die Lernkurve einer Organisation ist, die eine neue Fähigkeit erlernt. Was für Individuen gilt, das gilt ebenso für Gruppen von Individuen. Firmen und andere Organisationen sind nichts anderes als Gruppen von Menschen. Aus diesem Modell kann jeder, der sich wirklich weiterentwickeln möchte, lernen, worauf es ankommt.
Sieben Dinge, die mich als Mensch immer weiterbrachten
Vielleicht kennst du ja auch diese Leute, die im Online-Marketing nur die ersten paar Takte vorspielen können, sich dabei aber wie Leonard Bernstein aufführen. Ich persönlich habe eher wenig Verständnis für so ein Verhalten. In der Online-Marketing-Branche fällt es jedoch anscheinend sehr spät auf, wenn nach den ersten Noten nicht mehr viel kommt. Über kurz oder lang führt fehlende persönliche Weiterentwicklung immer zu Stillstand, Problemen und letztlich dem Ende der Karriere.
„No Pain – no Gain“, heißt es. Aua. Mit ein wenig Reflexionsvermögen gibt es aber auch ohne Schmerz die persönliche Weiterentwicklung, die letztlich zu Zufriedenheit und Erfolg führt.
Mein persönliches Fazit aus 20 Jahren Online-Branche lautet:
- Bleib bescheiden. Nur wenn du akzeptierst, dass es für dich immer weitergeht und du noch nicht alles weißt, gibt es überhaupt eine Grundlage für Weiterentwicklung.
- Gib nicht auf. Auch wenn es einmal eine schwierige Phase gibt: „Schmerz“ ist stets ein Trigger für Weiterentwicklung, den du nutzen solltest. Versuche, Schmerz in diesen Phasen in Motivation umzuwandeln.
- Sei neugierig. Lies so viele gute Bücher, Podcasts und Blogposts, wie du nur kannst, und blocke dir dafür auch die nötige Zeit – sie wird ansonsten nicht vom Himmel fallen.
- Sei authentisch. Versuche, dich nie wichtiger zu machen, als du wirklich bist. Bescheidenheit ist immer sympathischer als Großkotzigkeit.
- Erfolg kennt keine Abkürzung. Auch wenn andere „Für Elise“ spielen können – lass dich davon nicht beeindrucken. Echter Erfolg ist in 99 % der Fälle harte Arbeit und das Resultat vieler schwieriger Situationen, die gemeistert werden wollten.
- Verlasse die Komfort-Zone. Umgib dich stets mit Menschen, die dich herausfordern und die dich weiterbringen.
- Sei mutig. Die Online-Marketing-Welt braucht noch mehr kluge und erfahrene Köpfe. Verschwende deine Zeit nicht mit Blendern oder in Organisationen, die dich nicht weiterbringen.
Mein Bonus-Tipp: Gib dein Wissen weiter. Damit entwickelst du nicht nur andere weiter, sondern letztlich auch dich selbst! Egal, ob beim Schreiben von Blogposts, bei Vorträgen oder auch wie hier bei diesem Artikel: Jedes Mal lernte ich selbst wieder wahnsinnig viel dazu. Deshalb fordere ich auch immer wieder meine Kollegen bei konversionsKRAFT dazu auf, neue Blogposts zu schreiben und neue Vorträge zu halten. Nur so entwickeln wir uns weiter und bleiben nicht stehen.