User Experience beginnt dort, wo den potenziellen Nutzern etwas schmackhaft gemacht und versprochen wird. Die Erfahrung des Nutzers mit einem Produkt oder einem Service ist eine Reise, die mithilfe des UX-Wheels aufgeschlüsselt und dargestellt werden kann. Im UX-Wheel ist deutlich zu sehen, dass das ganze Team gefordert wird, diese Erfahrung des Nutzers positiv zu gestalten. UX ist keine Frage des Designs – UX ist das Arbeitsergebnis eines Teams, das nutzerzentriert denken und Hand in Hand zusammenarbeiten kann. Für eine vortreffliche UX braucht es von jedem einzelnen Team-Mitglied vor allem Achtsamkeit und Empathie für die anderen im Team und – für die Nutzer.
UX – das Erschaffen eines Gefühls, damit das Business läuft
Was war noch mal UX genau?
Manchmal wird ein Begriff so stark genutzt, dass der Eindruck entsteht, jeder wisse genau, was sich dahinter verbirgt. Als wäre es peinlich, noch mal nachzusehen, weil es so geläufig ist, dass man es eigentlich wissen müsste. Und dann, nachgefragt, stellen wir plötzlich und unerwartet fest: Huch, was war es noch mal auf den Punkt gebracht? UX, die Abkürzung für User Experience, scheint genau so ein Fall zu sein. Jeder hat es gehört, es ist wichtig, und doch bleibt nicht viel mehr hängen, als dass es irgendwie mit Design zu tun hat. „UX-Designer“ sind doch Leute, die diese UX irgendwie gestalten, oder? Die sorgen doch dafür, dass dem Nutzer die App, Website oder – in der Ära der Digitalisierung und des Internet of Things – die Kaffeemaschine mit ihrem Touch-Display oder ihrer eigenen App während der Nutzung Spaß bereiten.
Usability und UX – Pflicht und Kür
User Experience beschreibt zunächst einmal die Nutzerfahrung mit einem digitalen Konzept oder digitalen Medium. Gemeint sind damit meist Interaktionen mit User Interfaces – also im weitesten Sinne mit Software, im näheren Sinne mit Anwendungen wie Apps oder Webseiten, die Informationen oder Services anbieten. Bevor jemand von „Spaß bei der Benutzung“ sprach, redeten wir über „Usability“ – also die Benutzerfreundlichkeit einer Anwendung – mit ihren objektiv messbaren Eigenschaften. Diese stellt sicher, dass ein Button überhaupt als klickbar zu erkennen und zu nutzen ist. Als diese Grundlage gelegt war, machte es sich die UX zur Aufgabe, den Button so zu gestalten, dass der Nutzer Lust darauf hat, diesen zu klicken. In Zeiten, in denen Software monopolistisch hergestellt wurde, scherte man sich zunächst wenig um Usability und UX. Nach dem Motto: Sollen doch die Nutzer lernen, wie man ein Textverarbeitungsprogramm bedient oder einen neuen Patienten einpflegt. Mit der Zeit jedoch stellte man fest, dass Usability dazu beiträgt, Fehler zu reduzieren und die Effizienz zu erhöhen. Also wurde darauf geachtet, dass eine Anwendung leichter zu bedienen war und der Nutzer seinem Ziel schneller folgen konnte. Usability stand im Fokus, wurde großflächig thematisiert und stellt bis heute in verschiedensten Bereichen eine Herausforderung dar. Benutzbar ist vermutlich alles außer Kunst. Aber benutzerfreundlich sind all die Gegenstände (und Interfaces), die nicht nerven. Bei denen man während der Benutzung nicht unterbrochen wird, sich nicht ärgert, nicht fragt, wie es gehen soll, nicht fragt, wo die Lasche, Schraube, der Button ist und in welche Richtung besagtes Ding gedreht, gedrückt, gezogen wird. Da schlecht konzipierte Produkte anstrengend sind, beeinflussen sie die Stimmung und letztlich die Erfahrung des Nutzers mit dem Produkt. Ist er genügend genervt und hat eine Auswahl unterschiedlicher Anbieter, dann wird er sich nach einer Alternative umsehen. An dieser Stelle kommt langsam die User Experience auf die Bühne.
User Experience als Unterscheidungsmerkmal
In Zeiten, in denen digitale Anwendungen (Programme, Software) keine Luxusware weniger Anbieter, sondern kostenfreie Ware vieler Anbieter sind, steigt der Druck, mit einer Software besonders gute Erfahrungen zu machen. Die besonders gute Erfahrung mit Software stellt heute ein Unterscheidungsmerkmal in einem gesättigten Raum dar – es gibt beispielsweise in den App-Stores mehrere Millionen Apps. Es gibt allerdings nicht mehrere Millionen App-Ideen, sondern eine noch nie da gewesene Redundanz unterschiedlicher Ausführungen derselben Idee: z. B. Taschenrechner, To-do-Listen-Apps, Kosten-Tracker-Apps und natürlich Spiele, Spiele, Spiele …
Das Unterscheidungsmerkmal UX dient dazu, den Nutzer an die App, das digitale Produkt zu binden, um weitere Features – oder sogar andere Services – gegen Geld anzubieten. Ab diesem Punkt dürfte klar werden, warum UX nicht nur eine Designfrage ist, sondern sich auf die gesamte Reise bezieht, die der Nutzer mit einer Anwendung hat – vom Erstkontakt bis zur regelmäßigen Nutzung im Alltag.
Das UX-Wheel von Magnus Revang
Um die Allgegenwärtigkeit von UX zu begreifen, ist das UX-Wheel von Magnus Revang (https://twitter.com/magnusrevang) wunderbar. Es zeigt auf, dass UX keine lineare, einmalige Sache ist, sondern in einem eigenen digitalen Produkt immer und immer wieder herzustellen, zu korrigieren und zu entwickeln ist. Das kann bei jedem neuen Feature sein, allerdings auch einfach ein Mitgehen mit der digitalen Zeit darstellen. Wenn neue Trends wie die Eingabe über Sprache hinzukommen, stellen sich für eine Anwendung neue Fragen. Muss diese Anwendung die Spracheingabe wirklich unterstützen, weil es zum Vorteil für den Nutzer ist? Welche Befehle erwartet die Anwendung? Passt die Spracheingabe zur Nutzungssituation – oder kann es peinlich werden? Und so fort. Dann wird klar, dass UX nicht nur auf Screendesign und Spaß am Screen begrenzt ist, sondern allumfassend und dadurch zunächst schwer zu verstehen und anspruchsvoll im Herstellen ist.
Das Rad (Abbildung 1) stellt im Prinzip einen Customer Experience Lifecycle (innerer Kern) dar, der die Projektphase der Produktentwicklung den konkreten Produkteigenschaften gegenüberstellt. So sehen wir zum Beispiel beim lila gefärbten Abschnitt Usability, wie der Bereich Interaction Design (auf welche Art kann der Nutzer das Produkt benutzen?) mit der Information Architecture (wie werden Informationen dargestellt/mitgeteilt?) im Rad verbunden wird. Eine Disziplin fließt in die andere über und in Summe ergibt sich in der Praxis eine Routine, die nutzerzentriert immer wieder dieselben Phasen und Schritte durchläuft. Idealerweise inhaltlich nicht an dem gleichen Punkt, an dem das Team vorher war, sondern begleitet von der Entwicklung nach oben und immer wieder neuen Aspekten, die das Produkt oder dessen Nutzung oder das Bedürfnis des Nutzers aufwirft. Das UX-Wheel ist also in Wirklichkeit eine sich entwickelnde Spirale.
UX beginnt beim Mehrwert für den Nutzer – und das ist ein Gefühl
Wagen wir den Einstieg in das Rad – angefangen bei der Usefulness, der Nützlichkeit – auf ca. 11 Uhr. Es ist erstaunlich, wie oft in Projekten dieser Punkt gar nicht oder nicht ausgiebig genug betrachtet wird. Denn hiermit steht und fällt der ganze Business-Case. Nützlichkeit ist heutzutage nicht mehr nur Praktikabilität, sondern sie trägt zur Identifikation des Nutzers mit einem bestimmten Lifestyle bei. Eine App wie Dropbox ist nützlich und bietet eine ganz konkrete Lösung zu einem Problem. Eine App wie AngryBirds ist Unterhaltung und trägt zum Spaßhaben bei. Doch eine App wie Instagram löst kein klassisches Problem und dient nicht ausschließlich der Unterhaltung. Sie bezieht einen zusätzlichen Aspekt ein: Nutzer können sich selbst so darstellen, wie sie gern wären. Das ist ein menschliches Bedürfnis, das schwer rational herzuleiten oder zu argumentieren ist und zudem auch nicht allen Menschen so praktisch erscheint wie ein Hammer. Diese unscharfe Usefulness ist in digitalem Überfluss ein Businesskonzept auf rein emotionaler Ebene. Und diese Ebene wird mit der zunehmenden Abdeckung unserer Grundbedürfnisse und unserer empfundenen inneren Langeweile immer mehr Bedeutung erlangen. Die ewige Suche nach sich selbst in digitalen Ideen muss Spaß machen. Wer will von sich selbst gelangweilt sein?
Weiter geht es im UX-Wheel mit der Credibility, der Glaubwürdigkeit, eines digitalen Produkts. Glaubwürdigkeit in Anzeigen, Spots und netten Imagefilmen aufzubauen, ist eine Sache. Glaubwürdigkeit einzuhalten, wenn es zur direkten Nutzung des Produkts kommt, ist eine andere Sache. „Diese App wird Dein Leben besser machen – versprochen“ ist ein gewagter Zug. Der Nutzer wird der App eine Chance geben und ganz rigoros und unterbewusst prüfen, ob sie das Versprechen hält. Wenn nicht – und das ist noch dazu subjektiv – dann „tschüs“ und weg damit. Ungetestete Versprechen als Marketing-Strategie sind tot.
Kommen wir weiter zur Usability, zur Benutzbarkeit des digitalen Services, der Anwendung, der App. Es kann ganz simpel sein: Schon wenn ein Link nicht stimmt, ins Leere zeigt oder große Bilder nicht geladen werden, erhält die App vom Nutzer fette Minuspunkte. Es ist nicht abzusehen, wie viele Ressourcen ein Nutzer mitbringt, um zu warten, noch einmal zu probieren oder später wiederzukommen. Gegen solche Patzer hilft nur Testen und Monitoring. Stimmt etwas nicht, muss es vor dem Launch behoben oder nach dem Launch schnellstmöglich beseitigt werden. Zugegeben: Usability herzustellen ist in Zeiten unterschiedlichster Screengrößen und ständigen Channelwechsels (Watch – Smartphone – Desktop) eine anspruchsvolle Sache. Aber sie ist objektiv herstellbar und nicht abhängig von dem Geschmack des Nutzers. Soll heißen: Ein Stuhl kann durchaus bequem sein, auch wenn einem die Farbe oder das Material nicht zusagt. Allerdings bestimmen Farbe und Material die Attraktivität des Stuhls.
Im übertragenen Sinne bedeutet das für die Desirability, besagte Attraktivität, ob eine Anwendung passend zum Empfinden der Zielgruppe gestaltet wird. Hier gibt es Massentrends und Nischentrends. Um diese herauszufinden, braucht es viel Recherche und eine_n Designer_in mit Verständnis für die avisierte Zielgruppe. Geht es um Trends, dann bezieht sich die Attraktivität nicht nur auf das Aussehen der App, sondern darauf, wie attraktiv sich die Zielgruppe bei der Nutzung des Services fühlt.
Nutzer wollen nicht hören, wie toll der Service ist. Sie wollen hören, wie toll sie selbst sind, während sie diesen Service nutzen.
Accessibility, die Zugänglichkeit zum Produkt. Zugänglichkeit hat sehr unterschiedliche Perspektiven. Zum einen geht es um Barrierefreiheit – wie wird Nutzern mit besonderen Bedürfnissen oder einem Handicap die Nutzung ermöglicht? Die andere Sicht der Zugänglichkeit ist: Wie leicht kommt ein Nutzer überhaupt selbst an den Service oder kann den Service nutzen? Was passiert beispielsweise, wenn bei einer App, die es erlaubt, Fotos hochzuladen, gerade die Internetverbindung ausfällt? Zugänglichkeit bezieht sich also zuerst auf das Gerät. Hat es Zugriff auf Internet, auf GPS? Sind das Dienste, auf die diese Anwendung angewiesen ist? Dann sollte in der Konzeption entsprechend in „Wenn-dann“-Szenarien gedacht werden. Denn genau diese kritischen Fehler können mit Humor gehandhabt werden, um dem Nutzer nicht Kraft zu rauben, sondern ihn mit guter Energie am Prozess zu halten. Idealerweise so, dass er es wieder versucht und nicht von der App enttäuscht ist. Fehlermanagement bedeutet nicht, dass Fehler nicht passieren dürfen. Fehlermanagement heißt, mit Fehlern so konstruktiv umzugehen, dass der Nutzer sogar noch einen Vorteil daraus zieht. „Ooops, der Upload funktioniert gerade nicht. Nutze die Zeit doch für eine kurze Atemübung – 3, 2, 1.“ Und dann sieht der Nutzer statt eines endlos drehenden Kreises eine Animation, die ihm beim Durchatmen im hektischen Alltag hilft.
Findability, die Auffindbarkeit des Services. Wie erfährt der Nutzer überhaupt von diesem wunderbaren Service? Das ist völlig klar eine Marketing-Frage. Doch diese Frage klärt noch etwas grundsätzlich anderes: Gibt es Bedarf für diesen Service? Soll man als Anbieter diese gesamte Entwicklungsreise auf sich nehmen, inklusive Zeit, Team, Kosten, um diesen Service jetzt, zu diesem Zeitpunkt, an diese Zielgruppe zu bringen? Geht man diese Sache organisch an, dann kann man beispielsweise prüfen, welche Sucheingaben im Moment hohe Zahlen haben und ob es demgegenüber ein gesättigtes, ein eher lückenhaftes oder sogar kein Angebot gibt. Stichworte sind hier: MVP, Proof Of Concept, Prototying. In den letzten drei Ausgaben (#44, #45, #46) der Website Boosting können Sie weitere Artikel zu diesen Themen nachlesen.
UX-Zuständigkeiten im Team visualisieren
Wir sind also einmal durch die groben Bereiche des UX-Wheels durchgegangen. Nun stellt sich die Frage: Wie geht es weiter? Ein Vorschlag: Hängen Sie ein großes UX-Wheel in Ihrem Office sichtbar fürs Team auf. Bitten Sie Ihr Team, z. B. in Form kleiner Post-its, den eigenen Namen an den entsprechenden Unterbereich (z. B. Findability > Search Engine Strategy) zu kleben, wenn das Team-Mitglied meint, diesen Bereich abzudecken. Sammeln Sie erst einmal, ob alle Bereiche grob und fein abgedeckt sind. Damit hätten Sie die Zuständigkeiten im Team. Lassen Sie nun jedes Team-Mitglied kurz erzählen (zwei Minuten), wie es in diesem Bereich arbeitet und Ergebnisse misst. Fragen Sie auch nach, welches andere Team-Mitglied diesem Bereich zuliefert oder mit ihm kooperiert. Beobachten Sie die Dynamik der Team-Mitglieder. Haben Sie das Gefühl, es wird im Sinne des Nutzers zusammengearbeitet? Oder gibt es eine Kluft? Hier brechen wir ab bis zum nächsten Artikel. Denn es geht im ersten Schritt wirklich nur um eins: Schaffen Sie im Team Bewusstsein für UX mithilfe des UX-Rades.
Wie UX messbar gemacht werden kann, stellt Ihnen Karolina Schilling in der nächsten Ausgabe der Website Boosting vor.