Ad-Netzwerke wissen, was du letzten Sommer getan hast. Oder letzte Woche. Oder dieses eine Mal, als du alleine zu Hause warst und nach dieser einen Sache gegoogelt hast. Und sie werden es dir bis an dein Lebensende nachtragen.
Retargeting – Fluch oder Segen? (Spoiler: Fluch).
Du schon wieder!
Der Tod ist ein Kaufen
Die Innenstädte verändern sich. Unser Kaufverhalten ändert sich. „Der Tod ist ein Kaufen", sagte eine Freundin immer. Man lieferte sich beispielsweise zum Kosmetikerwerb prachtvollen, aristokratisch wirkenden stark geschminkten Frauen aus, neben denen man aussah, als wäre man mehrere Tage mit dem Gesicht nach unten in einem Fluss getrieben. Konnten die zehn Zeichen der Hautalterung einen nicht zum Kauf überzeugen, wandten sie sich gelangweilt ab. Man war frei und durfte gehen.
Der Clown ist ein Kaufen
Heute stehen verdächtig gut gelaunte junge Menschen in kleinen hippen Läden, in denen die Ware wuchtig in käseleibgroßen Einheiten angeboten wird, aus denen eine Verkäuferin mit der Axt einen Kanten Haarwaschmittel schlägt. Danach nimmt sie einen an der Kasse in die Zange. „Ich bin heute total verrückt drauf, bist du heute auch verrückt drauf?", fragte mich eine. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sogar 365 Tage im Jahr verrückt drauf ist, aber mein Parkschein läuft gleich ab und ich will meinen Reinigungsklotz bezahlen und gehen. „Wir haben heute unseren Lip-Scrub zum Testen!" Sie hält mir einen Tiegel mit glitzernden Peelingbrocken hin, in dem ich deutlich die Abdrücke unzähliger fremder Finger sehen kann. Ich weiche zurück. „Probier mal!" Ich möchte mir nichts auf die Lippen schmieren, in dem eine unangemessen große Anzahl anderer Menschen herumgewühlt hat. Der blöde Waschklumpen ist ja nicht mal für mich. Aber sie lässt nicht locker, verrückt drauf, wie sie nun mal ist. Am Ende schmiere ich mir den verkeimten Mix tatsächlich auf die Schnute. Nur so, damit es aufhört. Und weil sie vielleicht mit dem Schlauch kommt, weil es sich nicht mit der Lotion einreibt.
Was passiert, wenn man den Rüssel überall reinhängt
Irgendjemand hat sich vor Jahren überlegt, dass man diesen würdelosen Prozess doch auch online abbilden könnte. Welche Lehren kann E-Commerce aus dem wirtschaftlichen Erfolg tunesischer Strandverkäufer ziehen? Dem Exit ein saftiges Pop-up entgegensetzen und gleich noch eins hinterher, der Kunde soll sich geliebt fühlen. Genauso wurden sicher auch die ersten Retargeting-Pläne präsentiert: Man müsse es sich vorstellen wie eine unentschlossene Angebetete, die man mit zarten Worten zu locken versuche. Im privaten Sektor damals schon populär in Form ungefragter Penisbilder. Ein bestechend einfacher Prozess: Man schickt fremden Frauen ohne umständlichen Einleitungs-Small-Talk Bilder des eigenen Gemächts und beklagt sich dann darüber, dass man sowohl Single ist als auch bleibt. Als jemand, der mit großem Vergnügen theworstthingsforsale.com verfolgte, kann ich bestätigen, dass einem in den Kindertagen des Remarketing auch aufblasbare Ronald-Reagan-Sexpuppen bis in die Jobbörse hinterhergetragen wurden. Am Anfang kreischte man noch auf, das hatte man doch eben noch bei Amazon angeschaut, und nun wurde die Werbung eingeblendet, hier im Pilzsammelforum Harburg und Umland. Bald aber wich das Entzücken einem anderen Gefühl. Womit wir wieder bei den Penisbildern wären. Besucht man einen Online-Shop, um sich einen Artikel anzuschauen, dann hat es in der Regel einen Grund, wenn man wieder geht. Zum Beispiel wollte man den Artikel nie haben, sondern nur besichtigen. Oder man geht ohnehin zum Laden an der Ecke. Oder man kauft ihn. Das alles interessiert die olle Cookie-Schleuder nicht. Und so verfolgt einen der fünfte apokalyptische Reiter und präsentiert hoffnungsvoll in jedem Forum, jedem Portal eben jenen bequemen Sessel, in dem man gemütlich sitzt, weil man ihn nämlich schon vor Jahren gekauft hatte und ihn lediglich nun der Mutter zeigen wollte.
Remarketing: Der fünfte apokalyptische Reiter
Natürlich wendet niemand Geld und Energie auf für eine Methode, die nicht funktioniert. Irgendwo steckt in der Sache Geld. Es gibt unzählige positive Berichte über den Einsatz des Retargeting, speziell von Firmen, die Retargeting-Dienstleistungen anbieten. Gesichert ist auf jeden Fall, dass Retargeting zu mehr Käufen führt als Penisbilder zu Ehen. Auch gibt es eine einleuchtende Logik: Besonders hochpreisige Käufe finden selten spontan statt. Man sucht, man vergleicht, man wägt ab. Es ist sinnvoll, sich von Zeit zu Zeit in Erinnerung zu bringen. Es ist sinnvoll, nicht nur an das Produkt, sondern auch an die Kaufabsicht zu erinnern.
Rüsselfacts
An dieser Stelle ein interessanter Funfact zu Penisbildern: Sendet man als Frau ungefragt Vagina-Bilder, so erntet man ungebremste Begeisterung. Die 27-jährige Kerry Quinn schickte 40 Männern ein eindeutiges Bild, das zwar nicht ihre, aber dennoch eine Vagina zeigte. Während nur drei der Empfänger nicht darauf reagierten, zeigten sich 37 andere begeistert. Von obszön bis charmant reichte die Palette der Antworten. Angewidert war keiner. Vielleicht ist dies ja auch das Geheimnis des Retargeting. Erfinder und Verfechter der lästigen Werbung empfinden die Stalkerei keineswegs als unangemessen. Es sind Leute, die Scans ihrer Tagebücher auf Facebook hochladen, anstatt sich wie normale Menschen an einen Ort der Stille und Einsamkeit (Google+) zurückzuziehen, um in sich zu gehen. „Hurra!“, jubeln sie jedes Mal, wenn ihnen der ergoogelte Bleistift ins Bewusstsein geprügelt wird, „da bist du ja, mein Freund, mein Weggefährte unzähliger Sessions, mein Seelenverwandter!“ Nie wieder macht sich ein Gefühl der Einsamkeit breit. Passé ist die Nostalgie du dimanche soir, denn am Wochenende hat man nun was vor. Weihnachten verbringt man im Kreis seiner liebsten Amazon-Werbeanzeigen und auf dem Sterbebett wird man sich womöglich etwas weniger Trubel wünschen, denn in einem langen Online-Leben haben sich unzählige Cookies angesammelt, die nun ein letztes Geleit geben, Treppenlift neben Inkontinenzeinlagen, stilles Wasser neben Rentner-Sexurlaub in Thailand.
Die Schuldfrage
Die Werbetreibenden sind sich keiner Schuld bewusst. In einer Facebook-Gruppe rund um das Facebook-Marketing erntete ich baffes Erstaunen, als ich mein Unbehagen äußerte. Der genaue Wortlaut, nämlich: „Sollte es je einen Tag des Jüngsten Gerichtes geben, dann wird Retargeting ein Thema sein, das in einer speziellen Abteilung der Hölle bearbeitet wird. Und da wird es nicht aussehen wie in der Mitarbeiterlounge bei Google. Just saying“, löste Erstaunen aus. „Wieso? Läuft doch.“
An der Universität Hohenheim gibt es einen Lehrstuhl Katholische Theologie und Wirtschaftsethik, was für sich schon strahlend funkelt. Dort wurde neben Knallerthemen wie „Die Bedeutung von Achtsamkeit im Unternehmenskontext“ oder „Eine ökonomische Ethik für eine ökonomische Moral? Kritische Erörterung des wirtschaftsethischen Konzepts von Karl Homann“ (Homann? Der mit den Fertigsalaten? Der hat mir auch einiges zu erklären!) eine Master-Thesis zum Thema „Retargeting als Form des verhaltensbasierten Targetings in der Onlinewerbung – Eine moralökonomische Analyse“ verfasst. Ich habe sie nicht gelesen, könnte mir aber vorstellen, dass darin die Begriffe „Gier“, „Ethik“ und „Adblocker“ vorkommen. Denn der Glaube „Die Conversion heiligt die Mittel“ endet dort, wo die User durch allzu aufdringliches „Ich weiß, was du letzten Sommer gemacht hast“ aufgeschreckt werden und ihre Daten nur unwillig herausgeben. Oder noch schlimmer: für Werbung nicht mehr zu erreichen sind. Denn so bescheuert, wie die Kommentarspalten der WELT Online vermuten lassen, sind die Menschen eben doch nicht, bzw. die ganz Bescheuerten verbringen ihre Zeit eben in den Kommentarspalten der WELT Online, und denen will ja eh keiner was verkaufen, die schicken es am Ende ja doch zurück.
You can run, but you can't hide
Wird die Branche daraus lernen? Vermutlich nicht. Alles wird weiterentwickelt. Amazon testet die Auslieferung mit Drohnen. Bald schon werden diese Drohnen uns anstupsen und verlockende Werbejingles in unsere Ohren summen: „Der Treppenlift Bangkok natriumarm wartet auf Dich. Komm und kaufe ihn!“ Irgendwann werden sie ein Bewusstsein entwickeln. Und dann sind sie womöglich eines Tages ganz verrückt drauf und wollen, dass ich mir die Herpesviren wildfremder Menschen auf meine Lippen schmiere. Und irgendwann kommt jemand auf die Idee, anstelle von Stalker-Ads private Nachrichten auf die Jagd nach Aufmerksamkeit gehen zu lassen. Und dann wacht man morgens um vier auf, weil einem eine Drohne auf der Brust sitzt und heiß ins Gesicht atmet. „Ah, du bist wach. Vor vier Wochen hat dir Audi_20357 dieses Bild geschickt. Willst du ihm nicht darauf antworten?“ Und dann leuchtet sie einem einen Penis ins Gesicht, den man vor vier Wochen schon nicht sehen wollte.