Wir schreiben das Jahr 2017. „Der Chef will einen Relaunch.“ „Über Google kommt der meiste Traffic.“ „Das können wir nicht. Das geht mit unserem Shopsystem nicht.“ „Wir müssen jeden Tag 170 Stück Content produzieren.“
Abgekratzt …
2017. Seit mehr als einer Dekade und immer noch sprechen Experten auf Suchmaschinen-Marketing-Konferenzen fast nur über ein einziges Suchsystem: Google. Seit über einer Dekade geht es um „Keywords“, „Suchvolumina“, „10 blaue Links“ und „wie man Rankings manipuliert“. Die Gedanken kreisen wild um „Traffic“, „Ist das Cloaking?“, „Woher bekomme ich noch mehr Links?“ und „Duplicate Content“. Diese freiwillige Selbst-Indoktrination einer ganzen Branche infiziert seit Jahren systematisch alle umgebenden Ökosysteme, sodass selbst normale Unternehmen gar nicht mehr anders können, als nur „in Google“ zu denken. Wer heute ein Unternehmen fragt: „Was passiert, wenn morgen deine komplette Website aus dem Google-Index fliegt?“, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einem traurigen, leeren Blick und keiner vernünftigen Antwort rechnen.
2017. Unternehmen produzieren Unmengen an „Content“, eingepeitscht von Agenturen, angetrieben von einer vorgegaukelten Google-Gier nach frischem ASCII-Füllmaterial. Das WWW verkommt zur „Content-Müllkippe“ mit unzähligen Inhalten, die ohne jede Zielsetzung – außer vielleicht der Ranking-Manipulation – produziert wurden und zu keinem Zeitpunkt jemals von einem menschlichen Wesen gelesen werden. Der Umstand, dass hinter jedem Wort ein Mensch saß, der seine wertvolle Lebenszeit dafür aufbrachte, macht etwas fassungslos: Kann man im digitalen Umfeld noch entwürdigender mit dieser wertvollen Ressource „menschliche Lebenszeit“ umgehen? Führt man Online-Marketing-Verantwortlichen die (betriebswirtschaftliche) Konsequenz ihres Handelns vor Augen, erhält man ein Achselzucken: „Was soll ich machen, alle machen das so?“
2017. Vor ca. 23 Jahren entstanden die ersten Webshops: mechanische, prozessuale Konstrukte. Ersonnen von Entwicklern und Menschen, die Kataloge digital abbilden wollten. Und bis ins Jahr 2017 hat sich an der Anwendung und der grundsätzlichen Präsentations-Logik dieser Konstrukte kaum etwas verändert: Benutzer kommen auf eine Kategorie-Seite mit Hunderten von Produkten – ohne jede Führung, ohne jede Verführung des Besuchers. Sortiert werden kann nach Preis, Erscheinungsdatum, Artikelbezeichnung. Klickt man auf ein Produkt, geht der Verführungs-Albtraum weiter: Der Besucher wird von einer prozessual generierten, oft technischen Produkt-Überschrift verwirrt und bekommt einige Attribute zu sehen. Keine Spur von digitaler Verführung, Führung, Verlockung.
2017. Unternehmen machen immer noch regelmäßig „Website-Relaunches“. Ein Website-Relaunch bedeutet übersetzt ungefähr: „Ich trenne mich von meinem langjährigen Partner, beginne eine neue Beziehung und erwarte, dass alles von Anfang an besser läuft.“ Der Ex-Google-Mitarbeiter Jonas Weber hat hierzu gerne eine smarte Frage parat: „Wann war der letzte Amazon-Relaunch?“ Richtig – es gab noch nie einen. Smarte Unternehmen führen keine Website-Relaunches durch. Smarte Unternehmen entwickeln Websites auf der Basis von Tests in schnellen kleinen Schritten kontinuierlich weiter.
Kein vernünftiger Mensch würde im echten Leben sein gesamtes Kapital auf eine Aktie setzen, Dinge produzieren, die niemand jemals sehen wird, viel Geld für veraltete und schlechte Funktionsprinzipien ausgeben oder bewusst Risiken eingehen, die das gesamte Unternehmen gefährden. Im digitalen Bereich scheint all das jedoch eine Rechtfertigung zu finden. Macht das alles Sinn?