In den letzten Ausgaben konnten Sie ausführlich nachlesen, welche verschiedene Arten der Realitätsverzerrung bei Ihren Webbesuchern auftreten können. Was in der Wahrnehmungspsychologie gut bekannt ist, wird noch immer von den meisten Website- oder Shopbetreibern nicht entsprechend berücksichtigt. Menschen nehmen Informationen oft verzerrt auf und ihr Gehirn interpretiert vieles anders, als man das beabsichtigte. Als Ergänzung zu den bisher bereits bekannten Verhaltensmustern zeigt dieser Beitrag vier weitere Prinzipien, die sich bei A/B-Tests als äußerst wirksam herausstellten. Diese kognitiven Verzerrungen spielen eine große Rolle bei Entscheidungsprozessen von Online-Nutzern und können gut eingesetzt werden, um Online-Shops, Check-out-Formulare oder Leadgenerierungs-Seiten zu optimieren. Der bekannte Conversion-Experte André Morys gibt Ihnen jeweils konkrete Tipps, wie man gewinnbringend damit umgehen kann.
Verzerrte Realitäten
Die ganze Zeit war es egal. Doch auf einmal drehen sich alle Gedanken nur noch um dieses eine Hotelzimmer. Panik! „Letzte Buchung vor zwei Minuten! Hoffentlich ist das Zimmer nicht gleich weg.“ Jetzt heißt es, schnell handeln!
Wer kennt diese Situation nicht aus dem eigenen Leben? Der Mechanismus hat aus psychologischer Sicht einen Namen: Verlustangst heißt diese kognitive Verzerrung, die vor allem durch den Anbieter Booking.com verstärkt genutzt wird. Kognitive Verzerrungen (engl. „Cognitive Bias“) sind unterbewusste Denk- und Verhaltensmuster, die aus rationaler Sicht fehlerhaft sind.
Prinzip 1: Innerer Dialog
Du führst in deinem Kopf Selbstgespräche? Du hörst deine Gedanken? Keine Sorge, das ist normal. Innerhalb bestimmter Grenzen jedenfalls. Die permanenten Gedankenströme manifestieren sich bei den meisten Menschen mehr oder weniger intensiv in Form von Worten. Manche Menschen haben sogar gelernt, den inneren Dialog zu „kultivieren“ und dadurch ihre Gedanken in eine positive Richtung zu steuern.
Der innere Dialog führt jedoch oft auch zu katastrophalen Resultaten – aus Sicht eines Webdesigners. So könnten spontane Gedanken beim Anblick eines komplexen Formulars die Motivation zum Ausfüllen deutlich senken.
So wird manchmal bereits ein Grundstein für die Nicht-Konversion gelegt, weil es das Angebot nicht schafft, sich in den Strom der Gedanken zu legen. Mit „in den Strom legen“ ist gemeint, dass gut gestaltete Seiten oder Formulare den Gedanken der Nutzer folgen. Im Idealfall greifen sie den inneren Dialog in Form typischer Fragen auf und „kultivieren“ ihn – ähnlich wie ein Sportler, der sich zu Höchstleistungen motiviert, indem er seinen inneren Dialog steuert.
Wie sieht so etwas aus? Im Gegensatz zum eigentlich unkomplizierten Check-out eines Notebooks ist die Recherche einer Immobilien-Finanzierung beispielsweise eine wirklich komplexe Angelegenheit. Daher ist es in diesem Fall besonders wichtig, den Prozess nicht in Form eines riesigen Formulars abzubilden. Stattdessen agiert das Formular vergleichbar mit einem Berater, der Fragen stellt. Die erste Frage lautet: „Was für eine Immobilie möchten sie finanzieren?“, und alle darauf folgenden Fragen verändern sich auf Basis der Antwort.
Zusätzlich streut das Formular auch kleine positive Feedbacks ein, wie dies ein Mensch in einer Konversation auch tun würde. Zu Beginn einer neuen Frage steht dann z. B. „Großartig!“, bevor mit der eigentlichen Frage gestartet wird.
Konkrete Tipps:
- Detaillierte Formularanalysen und Abbrecherbefragungen nutzen.
- A/B-Test: Komplexe Formulare in „Konversationen“ umwandeln.
- Positives Zwischen-Feedback geben.
- Fragen, die Nutzer im Kopf haben, beantworten.
Prinzip 2: Cheering
Die Auswertung Hunderter A/B-Tests, die von konversionsKRAFT durchgeführt wurden, ergab, dass die Steigerung der Nutzermotivation im Schnitt zu fünfmal höheren Uplifts führt als das Beseitigen von Barrieren. Letzteres wird oft durch Vereinfachung der Funktionalität erreicht – doch wie motiviert man Nutzer?
Was wie ein Ding der Unmöglichkeit klingt, wurde im vorangehenden Prinzip bereits kurz erklärt: Auf den Zwischenschritten gibt es stets kurzes positives Feedback. Isoliert betrachtet kann man diesen Effekt auch als „Cheering“, also zujubeln oder anfeuern, bezeichnen.
Diese Form des subtilen positiven Feedbacks kennt jedermann aus Gesprächen. Ein guter Autoverkäufer wird seinen Kunden in seiner Auswahl bestätigen. Vor allem bei kognitiv anspruchsvollen Auswahlprozessen (z. B. bei der Wahl der Innenausstattung aus Hunderten Kombinationsmöglichkeiten) wird der Fachmann den Kunden bekräftigen. „Eine gute Wahl“, wird er sagen.
Besonders gute Verkäufer begründen ihr zustimmendes Feedback sogar, indem sie eine positive Eigenschaft der Auswahl betonen: „Eine gute Wahl, diese Farbe ist besonders pflegeleicht!“ Innerlich wird der Kunde einen kleinen Haken an seine Entscheidung machen, eventuelle Zweifel im Auswahlprozess werden im Keim erstickt.
Online wird dieses einfache Prinzip leider nur sehr selten genutzt. Wahrscheinlich liegt das daran, dass den Website- und Shop-Verantwortlichen gar nicht klar ist, welche Art von Feedback dem Nutzer wichtig ist. Dies geht nur dann zielgerichtet, wenn über qualitative Methoden wie z. B. Personas und Customer-Journey-Mapping aufgedeckt wurde, was für den Nutzer im jeweiligen Schritt wesentlich ist.
Konkrete Tipps:
- Personas entwickeln, um die Ziele der Nutzer zu kennen.
- A/B-Test: Positives Feedback in mehrschnittigen Formularen (Check-out) testen.
- Kleine sympathische Aufmerksamkeiten liefern (Icons, Herzchen etc.).
Prinzip 3: Nonsense Math Effect
„Über 100.000 Kunden!“, „Bis zu 200 Prozent sparen!“ – das typische Marketing-Blabla prallt in der Regel an dem Relevanz-Filter der meisten Nutzer ab. Das liegt unter anderem daran, dass das menschliche Gehirn darauf konditioniert ist, nur nützliche und glaubwürdige Informationen aufzunehmen.
Doch was macht Informationen glaubwürdig? Der schwedische Mathematiker Kimmo Eriksson publizierte eine wissenschaftliche Arbeit in zwei Versionen. Die eine Version kam ohne mathematische Formeln aus, in der anderen Version verwendete er mathematische Begriffe und Formeln, um seine Arbeit zu erklären.
Rund 200 Probanden sollten die Qualität der Arbeit begutachten. Dabei fiel auf, dass die zweite Variante mit mathematischen Formeln als signifikant glaubwürdiger eingestuft wurde (Quelle: einfach.st/sjdm2).
Ähnliches passiert teilweise auch in der Werbung und auf Websites. Shampoos haben einen „Ceramide-Kreatin-Komplex“, der auch mit pseudo-wissenschaftlichen Illustrationen auf der Packung belegt wird. Jedes andere Shampoo ohne diesen Wirkmechanismus schneidet in der subjektiven Einschätzung des Laien schlechter ab.
Wie lässt sich der Effekt auf Websites nutzen? Auch hier zeigt booking.com, wie man es machen kann. Anstatt gerundete Zahlen und Marketing-Superlative zu verwenden, zeigt man exakte Zahlen, um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen.
Konkrete Tipps:
- Prinzipien illustrieren und visualisieren.
- Bezug zu wissenschaftlichen Quellen herstellen.
- Echte, präzise Zahlen nennen statt „Marketing-Blabla“.
Prinzip 4: Negatives Reinforcement
Ein Werbelayer unterbricht den Leser auf einer Nachrichtenseite unsanft und legt sich ordinär über den Inhalt. Instinktiv geht die Maus nach oben rechts, um das kleine x für die Schließen-Funktion zu betätigen. Doch da ist keins. Wie lässt sich der Layer wieder schließen? Einfach außerhalb des Layers klicken? Funktioniert nicht. Der Nutzer liest den Inhalt des Layers. Es geht um einen kostenlosen Download, darunter ist der „Jetzt-herunterladen“-Button.
Ein kleiner, unscheinbarer Text unter dem Button sagt: „Ich verzichte auf das Wissen aus dem kostenlosen PDF und surfe weiter.“ Die Gedanken des Nutzers kreisen um den Nutzwert des PDFs. „Soll ich die Chance verstreichen lassen? Oder doch lieber das PDF sichern?“
Dieses Beispiel hat zwei Ebenen. Auf der einen Seite gibt es einen düsteren Moment für alle Freunde positiver UX. Sobald ein Nutzer in seiner Nutzungsfreiheit beschnitten und dadurch eine Aktion erzwungen wird („Sie können die Werbung in 5 … 4.. 3. 2. 1 Sekunden überspringen“) ist dieser zunächst genervt – und das ist nicht gut.
Auf der zweiten Ebene führt das Entfernen der Schließen-Funktion zu der logischen Konsequenz, dass sich der Nutzer mit dem Inhalt des Layers und vor allem mit der negativen Auswirkung des Nicht-Downloadens beschäftigen muss. Diese Verstärkung einer negativen Folge kennen wir sonst nur von Fehlermeldungen auf unserem Rechner, die uns vor Schaden bewahren möchten: „Möchten Sie die 1.435 Fotos wirklich löschen?“, ist in diesem Fall eine Sicherheitsabfrage, die den Fokus auf die Konsequenzen unseres Handelns legt.
Dieses Beispiel ist bewusst so gewählt, dass es bei fehlendem Schließen-Button ein negatives Gefühl auf UX-Ebene gibt. Es lohnt sich zu testen, ob sich diese Kosten lohnen und wie sich das Prinzip auf die Konversionsrate auswirkt.
Konkrete Tipps:
- Nicht-Handeln als Button/Funktion integrieren und Nutzung tracken.
- Negative Konsequenzen des Nicht-Handelns kommunizieren.
- A/B-Test-Idee: Bei Exit-Intent-Layern das Entfernen des Schließen-X testen.