„Hase? Liebst du mich?“ Stille. „Hase“ sitzt regungslos auf dem Sofa. „Hase, was ist los? Warum reagierst du nicht? Ist alles o. k.? Ist dir kalt? Warm? Hast du Hunger? Durst? Schau! Ich hab gekocht! Ich hab mich ausgezogen! JETZT SCHAU DOCH MAL!“
Abgekratzt …
„Hase“ hat schon lange abgeschaltet. „Schatz“ war zu oft irrelevant. Zu oft hat Hase eine Erwartung aufgebaut und Schatz hat dann nur mit unpassendem Zeug genervt. Irgendwann installierte sich Hase einen Irrelevanz-Blocker und führt seitdem eine einseitig entspannte Beziehung. Schatz hat das mitbekommen, aber nicht verstanden.
Eine milliardenschwere Digitalindustrie („Schatz“) buhlt um die Aufmerksamkeit der Internet-Nutzer („Hase“). Ein beachtlicher Teil dieser Internet-Nutzer nutzt Werbe-Blocker („Irrelevanz-Blocker“) und es werden täglich mehr. Die Digitalindustrie reagiert verzweifelt: Paywalls, Sanktionen, Aktionismus. Die wenigsten scheinen sich diese Frage zu stellen:
„Wie leiten wir die Aufmerksamkeit unserer Website-Besucher, damit in ihrer Wahrnehmung die von uns gewünschte Realität entsteht?“
Ein schlichter Satz, der sicher erst einmal sacken muss. Gleichzeitig handelt es sich um sehr mächtige Frage: Immerhin geht es um Konversionen, Käufe, harte Euros, um Effizienz und um eine Beziehung.
Wenn uns ein Website-Besucher seine Aufmerksamkeit schenkt, dann basiert diese regelmäßig auf einer Erwartungshaltung. Wird diese Erwartungshaltung nicht erfüllt oder gestört, fühlen Menschen sich oft enttäuscht, nicht ernst genommen, genervt, wittern sogar Betrug.
Vor diesem Hintergrund ist das aktuelle Verhalten der Online-Marketing-Branche an Absurdität kaum zu überbieten. Wer heute beispielsweise eine Nachrichtenseite zum Thema „EU-Türkei/Hilfesuchende“ öffnet, erwartet zurecht einen Artikel zu genau diesem Thema. Oft ist es so, dass im Artikel viele Werbe-Banner um die Aufmerksamkeit des Lesers buhlen, welcher jedoch auf den Inhalt fokussiert ist. Interessant ist dabei die Effizienz vernichtende Relevanzlosigkeit, mit der hier agiert wird:
Vor dem eigentlichen Nachrichtenvideo wird der Leser gezwungen, 19 Sekunden nicht pausierbare Werbung für den neuen Durex-Pleasure-Ring mit einer Lautstärkenanhebung von 150 % anzusehen. Der Leser sieht ein Werbe-Banner für eine Volkswagen-Wert-Schätzaktion. Daneben Reklame für Land Rover. Werbung für eine Taschenlampe. Ein plötzlich aufklappendes Werbevideo, das drei Minuten lang für Hewlett Packard Enterprise Services wirbt, selbstverständlich als „strategic, global solution“. Nach Minuten verschwindet das Video ohne Handlungsaufforderung und ist ... weg. Was zum Teufel soll das denn?!? Es folgt Werbung für undefinierte Kursangebote ab 19 Euro. Dazwischen kommt Abo-Werbung für „Die Welt“. Performance-Advertising-Tipps: „Neue Lotterie!“, „Genuss à la francaise!“ und „Single-Status beenden“. Werbung für Wein. Es folgen 14(!) weitere Werbemittel, die an Irrelevanz kaum zu überbieten sind. (Dieser Test wurde sowohl ohne als auch mit individueller digitaler Historie durchgeführt. Leider gab es keine nennenswerten Unterschiede.)
Auf der Beziehungsebene würde ein Therapeut „Schatz“ eine kräftige Mischung aus Misanthropie, Egomanie und Borderline bescheinigen: „Hase“ ist ihm völlig egal. Er will seinen Mist vor ihm abladen und außer der gewünschten Konversion seine verdammte Ruhe haben.
„Aufmerksamkeit“ ist online wie offline eine der wertvollsten Ressourcen. Wer auf Aufmerksamkeit mit (digitaler) Relevanz reagiert, bekommt den gewünschten Einfluss auf die Wahrnehmung seiner Besucher. Alle anderen müssen sie sich erzwingen. Das klappt bereits in der Offline-Welt nicht.