Die klassische Betriebswirtschaft geht vom Bild des Homo oeconomicus aus, dessen Ziel es ist, seinen Nutzen zu maximieren. Sein Handeln ist sehr rational, stringent und demnach wohlüberlegt bzw. logischen Gesetzen folgend. Doch verhalten sich Menschen im Konsumumfeld wirklich rational? Lassen sich Menschen im Verhalten sogar beeinflussen und führen unbewusst irrationale Handlungen aus? Die Verhaltensökonomik sowie die Hirnwissenschaft bejahen dies eindeutig. Menschen folgen verstärkt Heuristiken, welche den Energieaufwand des Gehirns minimieren und irrationales Verhalten sogar rationalisieren. Ist es Zufall, dass Horoskope sehr gut passen und sehr „persönlich“ klingen? Entscheidungen fallen leichter, wenn es eindeutige Alternativen zum Ablehnen gibt, oder nicht? Der Forer-Effekt bzw. der Decoy-Effekt zeigen in diesen beiden Beispielen ihre Wirkung.
Homo oeconomicus – wie vernünftig sind User wirklich?
„Keiner mag leere Cafés!“
Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen: Ronja gönnt sich einen freien Tag und geht mit ihrer besten Freundin in die Großstadt zum Einkaufen. Sie wollen unbedingt nach München und fahren mit der Bahn zwei ganze Stunden. Die Zeit vergeht wie im Fluge, da es sehr viel zu „besprechen“ gibt. Die Sonne scheint, es ist ein perfekter Tag, um sich für den kommenden Urlaub einzukleiden. Der Bikini der letzten Saison muss unbedingt gegen einen in frischeren Farben ausgetauscht werden. Nach drei Stunden gönnen sich die beiden eine Kaffeepause. In der Einkaufsstraße befinden sich direkt nebeneinander zwei kleine Cafés mit ansprechender Bestuhlung im Außenbereich. In einem Café sitzen zwei Menschen, das andere ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Sie wollen nur einen klassischen Kaffee trinken. Welches Café werden sie wahrscheinlich wählen? Findet die Auswahl des Cafés nach den rationalen Kriterien Preis, Füllmenge der Kaffeetasse, Ursprung der verwendeten Kaffeebohne etc. statt?
Social Proof – die soziale Bewährtheit
Wahrscheinlich werden sie ebenfalls versuchen, einen Platz im überfüllten Café zu bekommen, obwohl sie dieses Café nicht kennen. Diesen Effekt nennt Robert Cialdini „Social Proof“ und beschreibt das Phänomen, dass sich Menschen bei Entscheidungssituationen am Verhalten anderer orientieren. „Korrektes“ Verhalten wird durch die Umgebung beeinflusst und je mehr Dritte ein Verhalten offenbaren, als desto „richtiger“ wird die Entscheidung für dieses Verhalten gewertet. In der Webseitengestaltung kann dieses Prinzip ebenfalls angewendet werden. Das Buch von Cialdini hat bei amazon 913 Kundenbewertungen, die im Durchschnitt in 4,5 von 5 Sternen münden (Abb. 1). Es ist der Bestseller im Bereich Marketing und Konsumentenverhalten, wodurch nun die letzten Zweifel bei einem Bedarf in diesem Bereich ausgemerzt sein sollten. Darüber hinaus haben die meisten Menschen auch das Buch von Daniel Kahneman (1.729 Bewertungen) gekauft, was somit wahrscheinlich auch in den „rationalen“ Warenkorb gehört. Sofern eine Website über genügend Rezensionen verfügt bzw. die realistische Chance hat, Rezensionen zu bekommen, können diese eine Entscheidung positiv beeinflussen. Bei zu wenig Traffic bzw. Rezensionen kann dieser Effekt negativ sein, da keiner gern in einer „Geisterstadt“ oder einem leeren Café aktiv ist.
Die Bewertungen von Zappos.com überzeugen die Besucher nicht nur, dass das Produkt die notwendigen qualitativen Anforderungen sowie die Besonderheiten der Passform eines Schuhs abbildet, sondern sie erzählen im Idealfall eine Geschichte (Abb. 2.). Ein Schuh, der günstiger ist, als er aussieht, perfekt sitzt, sexy wirkt und schnell geliefert wird – klingt perfekt. Da Menschen Geschichten lieben und auch nach Jahren inhaltlich immer noch abrufen können, eignen diese sich hervorragend zur Überzeugung von Konsumenten (siehe auch Titelstory in der Website Boosting #31).
„Was machen eigentlich die anderen?“
Ähnliche Heuristiken lassen sich durch den „Bystander Effect“ sowie „Herd Behaviour“ beobachten. Menschen orientieren sich in Situationen unter Untersicherheit an anderen, um letztendlich zu entscheiden, was sie tun sollen. Latane und Darley („Bystander intervention in emergencies: Diffusion of responsibility“, siehe einfach.st/bystander) haben bereits 1968 erforscht, dass bei einem Notfall eine Gruppe von Menschen (31 %) nur bedingt Hilfe leistet. Sei nur eine einzelne Person zugegen, wäre diese mit einer hohen Wahrscheinlichkeit (85 %) aktiv geworden. Schon einmal das Tablett bei McDonalds stehen gelassen, weil sehr viele andere das auch getan haben? Wenn ja, haben Sie sich verhalten wie der Rest der „Herde“. Insbesondere im Finanzbereich gibt es das sogenannte „Herd Behaviour“, bei welchem sich Individuen an Entscheidungen anderer orientieren, welche sie ggf. allein so nicht getroffen hätten.
Reziprozität – schenken und beschenkt werden
Eine Einladung zu einem Abendessen oder Bier mündet meist schnell in der entsprechenden Gegeneinladung. Kunz und Wolcott waren überrascht, dass für ihre Weihnachtskarten an unbekannte Personen diese sich revanchierten (siehe „Season's greetings: from my status to yours“ im Social Science Research). Dieses Prinzip nennt Cialdini Reziprozität. Es ist eine der mächtigsten Heuristiken im menschlichen Verhalten: Menschen stehen nicht gern in der Schuld anderer. Das spannende ist, dass das ursprüngliche „Geschenk“ meist mit einem höheren Wert ausgeglichen wird.
„Do ut des – ich gebe, damit du gibst!“
Das nachhaltigste Gut, welches Webseitenbetreiber verschenken können, sind passende Inhalte für Suchende. Gerade bei Unsicherheit schauen Menschen nach allen zur Verfügung stehenden Informationen. Ist die Spiegelreflexkamera das Richtige für mich? Welcher Laptop eignet sich für meinen Bedarf? Welche Babynahrung ist für den neuen Erdenbürger das Beste? In Form von E-Books können weit vor dem eigentlichen Kauf die Konsumenten emotional an eine Marke „gebunden“ werden. „Hartware“ in Form einer kostenlosen Schatzkiste (Heuristik „free“,Beispiel Abb. 3) in Kombination mit Ernährungstipps von Experten (Cialdinis Prinzip der „Autorität“, Beispiel Abb. 4) forciert dieses Prinzip der Überzeugung von Menschen. Neben privaten Informationen, die hemmungsloser preisgegeben werden und bspw. durch Printkampagnen genutzt werden können, revanchieren sich die Nutzer tendenziell mit einer langfristigen Markentreue.
Dan Ariely hat die Wirkung der Heuristik „free“ umfassend erforscht. Nehmen wir an, Sie haben die Wahl zwischen einer exklusiven Trüffelpraline für 0,27 € und einer klassischen Praline für 0,02 €. Wie würden Sie entscheiden? Würden Sie sich anders entscheiden, sofern die Preise auf 0,26 € bzw. 0,01 € gesenkt würden? Wahrscheinlich nicht. Senkt sich der Preis nochmals um 1 Cent, wie würde die Entscheidung zwischen der 0,25-Euro-Praline und Gratispraline ausfallen? Identisch? Fraglich, da der Mensch eine tief sitzende Angst vor Verlust hat. Bei einer Entscheidung gegen das kostenlose Produkt besteht die Gefahr einer schlechten Entscheidung mit ggf. negativen Aspekten (Verlust). Aus diesem Grunde ist die Wirkung von „gratis“ exorbitant hoch (siehe Shampan’er und Ariely „How Small is Zero Price? The True Value of Free Products“, 2007). Das Zusammenwirken von Gratisprodukten oder -dienstleistungen mit „Reziprozität“ könnte eine interessante strategische Marketingkampagne sein.
Das Prinzip der Verknappung wird bereits auf vielen Webseiten eingesetzt. Genau vom gewünschten Artikel sind in der passenden Größe nur noch zwei auf Lager, das Hotelzimmer gibt es nur noch einmal zu diesem Preis. Sofern etwas rar wird (Produkt, Dienstleistung, Information etc.) und demnach nur noch begrenzt zur Verfügung steht, steigt der persönlich empfundene Wert und demnach der Drang, diese Chance nicht zu verpassen. Im Teleshopping werden dieser Druck und die Notwendigkeit zur Handlung sehr sichtbar: Gegen Ende zählt die Verfügbarkeitsanzeige sehr schnell herunter und es kommt zu Wartezeiten in der telefonischen Bestellannahme (zusätzlicher Aspekt des Social Proof). Die Website booking.com nutzt dieses Prinzip sehr intensiv: Neben der Anzeige am Hotelangebot „nur noch 1 Zimmer verfügbar“ werden am Bildschirm plötzlich Nachrichten wie „es sehen sich gerade 19 Personen das Hotel an“ oder „die letzte Buchung erfolgte vor 10 Stunden aus der Ukraine“ angezeigt. Vermeintliche Eile („Urgency“) ist nun geboten, um das Angebot nicht zu verpassen.
Commitment und Konsistenz – wer A sagt, bleibt bei A
Menschen bevorzugen eine Harmonie zwischen dem Kommunizierten und der eigentlichen Handlung. Eine Abweichung zwischen der geäußerten Meinung und dem tatsächlichen Tun fördert den Zustand der Dissonanz, welches negative Emotionen auslöst. Daher ist es bedeutsam, durch „kleine“ Commitments die Menschen anzuregen, ehe größere Aktionen folgen. Sofern sich Menschen öffentlich äußern oder eine Handlung öffentlich durchführen (Kommentar oder Statement in den sozialen Netzwerken) ist die anschließende weiterführende Aktion sehr wahrscheinlich. Im Web ist es demnach ratsam, eine Handlung wie bspw. eine Registrierung oder ein Formular in mehrere Schritte aufzuteilen: Der Intention, zu spenden, könnte im zweiten Schritt ein Feld mit Eingabe des Spendenbetrages und der Bankverbindung folgen, statt dies alles in einem einzigen Schritt durchzuführen. Die Wahrscheinlichkeit des Abschlusses ist bei zwei Schritten größer, da der Absicht „ich will spenden“ erst im zweiten Schritt der Abfluss des Geldes folgt und Menschen dann dem ersten Commitment folgen werden. Ein Beispiel für die Unterstützung dieses Prinzips zeigt Abb. 5.
„Lass mich nur machen …“
Der Nutzer wird innerhalb des Check-outs, welcher durch das Entfernen ablenkender Menüpunkte sehr fokussiert wird, in seiner getroffenen Entscheidung konsequent weiter bestärkt. Virtuelles Schulterklopfen (grüne Haken) sowie der positive Hinweis („Sie haben Ihr Konto erfolgreich erstellt.“) fördern das weitere Handeln. Idealerweise würde die Adresse sofort inhaltlich geprüft bzw. Adressdaten verifiziert, was im Nachgang weitere Kontakte mit den Kundenservice ebenfalls optimieren sollte. Insbesondere rhetorische Fragen können dazu dienen, einen Kauf bzw. eine Registrierung anzustoßen: „Wenn Sie täglich 20 € sparen könnten, würden Sie?“ (siehe Blankenship und Craig „Rhetorical Question Use and Resistance to Persuasion: An Attitude Strength Analysis“, unter einfach.st/blcra).
Tipp: Susan Weinschenk greift in Ihrem Buch „Neuro Web Design“ ebenfalls die Prinzipien von Cialdini auf und bezieht diese jeweils auf den Bereich E-Commerce. Sie zeigt bspw. das Vorteilhafte von Produktbewertungen sowohl unter dem Aspekt „Social Proof“ als auch unter Forcierung des Commitments. Wenn Menschen eine positive Rezension verfassen, werden und wollen sie auch weiterhin verstärkt mit der Seite bzw. dem Unternehmen interagieren. Dieser hinsichtlich des Markenaufbaus sehr positive Effekt sollte demnach, wenn die Möglichkeiten bestehen, unterstützt werden.
Liking – Sympathie durch Attraktivität oder persönliche Ähnlichkeit
Im Kommunikationstraining findet sich immer wieder der Vorteil des „Rapportherstellens“, d. h. die Anpassung der eigenen Verhaltensweisen an die des Gegenübers. Dies beruht darauf, dass Menschen die Interaktion mit anderen Individuen, welche ihnen sehr ähnlich bzw. für sie subjektiv attraktiv („Halo-Effekt“) sind, bevorzugen. Führungskräfte können in die Falle tappen, sich unterbewusst Mitarbeiter auszusuchen, die den eigenen Verhaltens- und Denkweisen entsprechen. Dieser Umstand muss nicht förderlich für das Team sein, da ggf. Fähigkeiten bzw. kontroverse Herangehensweisen an Aufgaben dadurch zurückbleiben. Im Web sollte jedoch die Tendenz, attraktive Menschen unterbewusst als gütig, ehrlich, begabt und intelligent einzuschätzen („good-looking equals good“, Robert Cialdini), unterstützt werden. Prominente wären ein probates Mittel, das jedoch finanziell wenigen Marken zur Verfügung steht. Deshalb ist das eigene Branding von großer Bedeutung. Teddybären werden unweigerlich mit Steiff verbunden, die Marke hat eine Geschichte, welche sie sympathisch, authentisch und unverwechselbar macht.
„Ich verwechsle mich gern mit dir!“
Die bedachte Auswahl und Nutzung von Fotos ist demzufolge ein wichtiger Punkt in der Webseitenoptimierung. Im Idealfall spiegeln sie die Zielgruppe wider („make them look like me“, Susan Weinschenk) bzw. zeigen Menschen, wie die Sie sein wollen. Insbesondere bei „Silver-Surfern“ bzw. bei den „Best-Agern“ ist die Produktpräsentation mittels jüngerer Modells empfehlenswert, da dem Gehirn suggeriert wird, dass diese Menschen attraktiv sind und deren Verhalten imitiert werden sollte. Außerhalb der Zielgruppe mag es skurril wirken, mit deutlich jüngeren Modells zu werben, innerhalb der Zielgruppe wird dies unterbewusst positiv unterstützt. Adler bringt es mit „altbacken war gestern“ auf den Punkt – in sowohl Bild als auch Wort (Abb. 6).
In Summe beschreibt Cialdini sechs umfassende Prinzipien, welche typsicherweise Handlungen in Gang setzen (Abb. 7). Die Adaption auf den Kontext E-Commerce bzw. Webseitenoptimierung kann zu großen Erfolgen führen. Darüber hinaus bietet David Kahneman („Thinking, Fast and Slow“) mit vielen Beispielen einen hervorragenden Einblick in das menschliche Verhalten. Beide Bücher sind in einer deutschen Ausgabe erhältlich.
Die sechs Prinzipien von Cialdini sind sehr mächtig und gleichzeitig sehr generalistisch, dennoch gibt es weitere Effekte, welche insbesondere im E-Commerce eine Rolle spielen könnten. Könnten deshalb, weil alle Prinzipien mittels eines quantitativen Tests (A/B) und entsprechender Hypothesen verifiziert werden müssen.
Paradox of Choice und der Order-Effekt
Das bekannte Prinzip des „Paradox of Choice“ besagt, dass sich Menschen für eine große Auswahl sehr interessieren. Aufgrund des persönlichen Drucks beim Auffindens der perfekten Lösung können sie sich nicht unmittelbar entscheiden bzw. brechen komplett ab (siehe Barry Schwarz im TedTalk einfach.st/ted4 bzw. Ayengar und Lepper „When Choice is Demotivating: Can One Desire Too Much of a Good Thing?“ einfach.st/lyengar). In diesem Zusammenhang werden meist eine facettierte Navigation bzw. zusätzliche Vergleichs- oder Empfehlungssysteme (Recommendation-Engine) herangezogen, um die Auswahl zu limitieren. Eine weitere Heuristik könnte in diesem Zusammenhang einen Einfluss auf die Verkaufsraten haben – der „Order-Effekt“. Dieser Effekt besagt, dass das Produkt an erster Stelle, obwohl es nicht die besten Eigenschaften im Vergleich zu anderen Produkten hatte, dennoch am häufigsten gewählt wurde (siehe Felfernig et al. „Persuasive Recommendation: Serial Position Effects in Knowledge-Based Recommender Systems”, unter einfach.st/kbrecs). Das Produkt an erster Stelle wurde dabei so oft gewählt wie die weiteren Produkte in Summe. Die Position eines Produktes in einer Liste hat demnach einen großen Einfluss auf das Klickverhalten. Das menschliche Gehirn benötigt sehr viel Energie (ca. 20 % des gesamten Energiebedarfes), weshalb versucht wird, die vorhandene Energie so effizient wie möglich einzusetzen. Grundsätzlich werden nicht alle zur Verfügung stehenden Informationen bei der Produktauswahl genutzt, sondern nur einzelne Attribute. Das Faszinierende dabei: Eine getroffene Entscheidung wird meist später rationalisiert, um Einklang zwischen Handlung und eigener Wahrnehmung/Gedanken zu finden. Der auftretende Effekt einer kognitiven Dissonanz würde ansonsten zu einem Kaufabbruch bzw. einer Retoure führen (Nachkaufdissonanz).
Kontrastprinzip – gezielt Köder auswerfen
Menschen tun sich schwer, Produkten oder Dienstleistungen einen Wert zuzuweisen. Der Psychologe Dan Ariely geht so weit, dass er sagt, alles sei relativ (Buchtipp „Denken hilft zwar, nützt aber nichts“). Klingt im ersten Schritt verwunderlich, bei genauem Hinsehen jedoch einleuchtend: Nehmen wir an, Sie wollen einen Taschenrechner für 20 € kaufen. Im Laden erfahren Sie, dass es dieses Produkt im anderen Markt für 10 € zu kaufen gibt. Würden Sie dafür 15 Minuten fahren? In einer vergleichbaren Studie von Tversky und Kahnemann („Framing of Decisions and the Psychology of Choice“, 1981) haben dies 68 % der Menschen vollzogen. Wie entscheiden Sie sich dann in folgender Situation: Sie benötigen noch einen Anzug. Im Geschäft wählen Sie einen für 800 €, ehe Ihnen zugetragen wird, dass der identische Anzug beim Mitbewerber 790 € kostet. Fahren Sie wieder 15 Minuten?
Diese Relativität hat einen großen Einfluss auf die Beurteilung und Entscheidung für Produkte: Der direkte Vergleich zählt und lenkt das Verhalten. Ein guter Weinverkäufer nutzt diesen Effekt sehr bewusst: Bei einem kommunizierten Budget von 10 € wirkt ein Wein für 5 € zu günstig und für 11 € etwas zu teuer. Wird ein 20-Euro-Wein gezeigt, welcher die identische Qualität wie der 11-Euro-Wein hat, führt dies zu einer Aufwertung des 11-Euro-Weines. Die Entscheidung wird mit gutem Gewissen getroffen (proaktive Vermeidung der Nachkaufdissonanz). Im E-Commerce-Umfeld sind Vergleiche allgegenwärtig. Meist gibt es drei verschiedene Alternativen der möglichen Mitgliedschaft (Basic, Plus, Premium) oder das Produkt in drei Ausführungen (iPhone in 16 GB, 64 GB, 128 GB).
Durch das Aufzeigen der einzelnen Bestandteile in Abb. 8 erscheint das Kombiangebot (zusätzliche Unterstützung durch Hinweis „Best Offer“) sehr günstig, da ein Vergleich zu den Einzelpreisen vorhanden ist. Die Print- bzw. Digitalversion fungiert wechselseitig als Köder („Decoy“) zum eigentlich gewünschten Format, d. h., ein printaffiner Mensch bekommt für 10 € das Digitalpaket, welches eigentlich 47 € kosten würde. Prinzipiell besagt der decoy-Effekt, dass eine zusätzliche Variante gezeigt wird, welche ausschließlich die Aufgabe hat, die Entscheidung zu lenken.
Der Kontrast hat einen weiteren Einfluss auf die anschließende Wahrnehmung. Die Attraktivitätsbeurteilung von Menschen oder Produkten verändert sich im Kontrast zu anderen und ist damit ebenfalls relativ. Kenrick und Gutierres haben dies bereits 1979 in ihrer Studie „Contrast effects and judgments of physical attractiveness: When beauty becomes a social problem” belegt (http://www.researchgate.net/profile/Sara_Gutierres2/publication/232501999_Contrast_effects_and_judgments_of_physical_attractiveness_When_beauty_becomes_a_social_problem/links/0a85e52e6da0972c20000000.pdf): Basierend auf dem Nutzungskontext kann die Attraktivität von Menschen (Bildern) unterschiedlich wahrgenommen werden. Probanden bewerteten die Attraktivität einer Frau auf einem Foto unterschiedlich (negativer), sofern sie kurz vorher attraktive Frauen (in der Studie die Serie „Drei Engel für Charlie“) gesehen hatten. Die vorgelagerte Betrachtung der attraktiven „Engel“ beeinflusste die Wahrnehmung bzw. Bewertung des Bildes.
„Ich hasse Verluste!“
Die vorgestellten Prinzipien sind nur ein kleiner Ausschnitt aus der Verhaltensökonomie. Die englischsprachige Wikipedia bietet einen Artikel, der >100 irrationale Verhaltenstendenzen aufzeigt einfach.st/bias). Das interessante an all diesen Heuristiken ist, dass diese meist unterbewusst ablaufen. Kleine Anpassungen am Text bzw. der Logik der Webseitennutzung können enorme Auswirkungen auf die Leistungskennzahlen haben. Ein Beispiel hierfür ist die generelle Verlustaversion von Menschen. Das menschliche Gehirn reagiert in Entscheidungssituationen sehr schnell und präferiert diejenige Alternative, welche einen Verlust minimiert. Dell nutzt in den Konfigurationen dieses Prinzip. Anstatt mit einem günstigen Produkt zu starten und dies „upzugraden“, wird ein hochwertiges Modell angeboten und die günstigere Version subtrahiert (siehe Abb. 9). Susan Weinschenk fasst dies mit „Substract, don´t add“ zusammen, d. h., der Verlustschmerz ist höher als der Anreiz der Aufwertung. Dasselbe Prinzip wirkt auch beim Texten: Eine 95 %-Chance auf Erfolg ist deutlich aktivierender als die (geringe) Chance von 5 % auf einen Misserfolg.
Unterstützung durch ein Optimierungs-Framework
Achtung: Ein Einsatz psychologischer Trigger muss nicht immer einen positiven Effekt haben. Daher ist es wichtig, genau zu wissen, welche Prinzipien für die Zielgruppe bzw. Persona funktionieren und welche genau nicht. Darüber hinaus ist es viel bedeutsamer, generell einen strategischen Ansatz für die Konversionsoptimierung zu finden und einzusetzen. Basierend auf einer Theorie oder einem Prinzip müssen Hypothesen abgleitet werden, welche es in einem Test zu verifizieren gilt. Ein sehr gutes Modell zur Generierung von Testhypothesen ist das Sieben-Ebenen-Modell von André Morys (siehe „So finden Sie Conversion-Killer“ in Website-Boosting Ausgabe 18-20). Als einfache Alternative kann das LIFT-Modell von Widerfunnel (http://einfach.st/wf55) eingesetzt werden (siehe Abb. 10).
Jede zu optimierende Webseite muss gemäß den Optimierungs-Frameworks Klarheit über den Nutzen des Produktes/der Dienstleistung bringen (Value). Relevanz des Angebotes und Klarheit in der Gestaltung fördern die Konversion, wohingegen Bedenken und Ablenkung die potenzielle Konversion gefährden. Die Webseite muss demnach über eine stringente Nutzerführung verfügen und aufkommende Bedenken positiv beantworten. Die Dringlichkeit forciert das unmittelbare Abschließen der Transaktion des Nutzers. Die angesprochenen Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie können dabei unterstützend tätig werden. Dringlichkeit kann bspw. durch Verknappung gefördert werden, eine Reduzierung von Bedenken durch Social Proof oder Autorität (Experten, Prüfsigel). Auf dem Blog von Webarts (konversionskraft.de) sowie im Whitepaper von Widerfunnel (http://einfach.st/wf56) sind weitere Faktoren zur strategischen Konversionsoptimierung nachzulesen. In Summe wird nochmals verdeutlicht, dass die Kombination smarter Strategien (Lift) mit einer agilen Testinfrastruktur (Speed) einen gegebenen Wettbewerbsvorteil reduzieren (Situation für Start-up) bzw. ausbauen (Situation für Marktführer) kann.
Fazit:
Obwohl das menschliche Verhalten von den Menschen selbst als rational und nutzenorientiert klassifiziert wird (Homo oeconomicus), steht die Realität im großen Kontrast dazu. 70-80 % der Entscheidungen werden lt. den Erkenntnissen der Neurowissenschaft unbewusst getroffen. Diese These wird seitens der Verhaltensökonomik unterstützt: David Kahneman spricht dabei von System 1, dem schnellen und unterbewussten Denken, welches im Gegensatz zu System 2, dem langsamen und logischen Denken, das menschliche Handeln überwiegend leitet. Gewinnbringend für Unternehmen ist sicher die Adressierung des evolutionsgeschichtlich älteren Hirnteils, da der Geist massiv vom Unterbewusstsein gelenkt wird und ggf. Entscheidungen ex post erst rationalisiert. Das alte Gehirn scannt die Umgebung immer nach Veränderungen, die letztendlich Gefahr, Nahrung oder Sex bedeuten. Deshalb reagieren Webseitenbesucher auf blinkende Banner, auf Bilder von attraktiven Menschen oder frischen Lebensmitteln, schauen Menschen auf Bildern vornehmlich in die Augen und folgen deren Blickrichtung.
Genauso, wie die Situation aus dem Straßencafé zu Beginn dieses Artikels hoffentlich noch präsent ist, da Menschen Geschichten und Bilder lieben („Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen“), so scheint es verblüffend, wie genau Horoskope auf den einzelnen Menschen zu passen scheinen. Scheinen deshalb, da auch hier ein psychologischer Effekt, der Barnum- bzw. Forer-Effekt eintritt, welcher sehr allgemeingültige Aussagen zur eigenen Person als sehr passend klassifiziert (Forer, Bertram (1949), The fallacy of personal validation: a classroom demonstration of gullibility).
In diesem Sinne: Beobachten Sie Irrationalitäten und setzen Sie diese rational ein! Der Besuch einer Tupperparty, Kerzenparty, Putzmittelparty etc. offenbart alle Prinzipien von Cialdini – Achtung, es besteht dabei Kaufgefahr.