In einem Interview wurde ich neulich gefragt, ob es für Online-Shops eine gute Strategie sei, sich an den Marketplace von Amazon anzuschließen, um die Reichweite zu erhöhen. Ja klar, die reine Reichweite erhöht man damit auf jeden Fall, war der erste Teil meiner Antwort. Aber ob es wirklich eine gute Strategie ist? Wohl eher in den seltensten Fällen, war der zweite, durchaus komplexere Teil. Und als ich kurz vor Weihnachten wegen eines seltenen Filters für die Fotografie, den es bei Amazon nicht gab, wieder im Web unterwegs war, musste ich wie schon so oft durch die Online-Shop-Hölle und watete knietief in den Zumutungen, die reale Läden mit ihren halbherzigen „Ich-will-auch-online-sein“-Angeboten für kaufwillige Besucher bereithalten. Wie geht man mit der aufsteigenden Wut um, dass Google solche Mistshops überhaupt zum Anklicken zeigt? Wäre es in vielen Shops nicht die kundenfreundlichste Tat, mit einem Banner „Hier gibt es nichts zu kaufen, surfen Sie weiter!“ vor dem anstehenden Zeitdiebstahl zu warnen? Ist jemand, der mit seinem Shop einfach nicht aus der Pubertät kommen möchte, mit einem Unterschlupf bei Amazon besser aufgehoben? Wohl nicht.
Fischers Meinung
Überleben jenseits von Amazon & Co.?
Rein berufsmäßig sehe ich eigentlich viel zu viele Websites. Gut, ein Automechaniker kann auch nicht sagen, dass er keine Motorhauben mehr öffnen möchte. Bei Audits denke ich manchmal, dass ich vielleicht mitunter zu streng bin mit Kritik. Die Besucher möchten dieses nicht oder sie möchten wahrscheinlich mehr Infos über jenes. Wenn man dann selbst involviert ist und ein bestimmtes Produkt sucht bzw. kaufen möchte, ist das aber noch mal eine andere Nummer. Dann erkenne ich oft, dass meine Kritik vielleicht sogar noch zu sanft, zu tolerant und zu „so schlimm ist das nicht“ ist.
Was im realen Leben selbstverständlich ist, bilden die stummen Online-Softwaresysteme (ich vermeide bewusst das Wort Shop) nicht oder noch immer nur mangelhaft ab. Wenn ich in ein Fotogeschäft gehe und selbst nicht finde, was ich suche, frage ich einen Verkäufer. Wird etwas selten nachgefragt und ist nicht auf Lager, bestellen die das auch schon mal gern. Das Teil kostet 22 €? O. k., wo ist die Kasse. Man zahlt– bar, mit EC- oder Kreditkarte – und geht. Und im Online-Shop (ab jetzt schreibe ich wieder Shop, das wird sonst zu mühsam)? Warum muss ich dann in Online-Shop mindestens 39,49 € ausgeben, wenn ich etwas kaufen möchte?
Warum kann ich nicht mit Kreditkarte zahlen, sondern nur per Vorkasse oder Nachname mit unbekanntem Gebührenaufschlag? Warum bekomme ich „derzeit nicht lieferbar“ angezeigt bzw. warum lässt man überhaupt eine Produktseite von Google finden und listen, auf der dann „Ätsch“ steht – natürlich nur im übertragenen Sinne? Hofft man, dass der eine oder andere Besucher vielleicht irgendwas anderes kauft? Und das, obwohl er sich schon den ersten Ärger eingefangen hat?
Ein Shop schaffte es sogar, mir nach einem Klick auf den Warenkorb meinen Namen, die Anschrift, die E-Mail-Adresse und ein Passwort abzutrotzen und mich mit dem Hinweis, es käme jetzt eine Mail, erst mal wieder zu verabschieden. Die Mail klärte mich dann über die vielfältigsten Vorteile auf, die ich jetzt als registrierter Kunde hätte.
So könnte ich jetzt ganze Adressbücher hinterlegen für all meine Geschenkadressen. In einen Shop für Fotozubehör, wohlgemerkt. Meine Verwandtschaft würde sich bedanken und mich wohl bald zu Geburtstagen nicht mehr einladen. (Ich gebe zu, einen Moment lang dachte ich nach, ob das nicht vielleicht doch keine schlechte Idee wäre!). Zurück zur Mail. Da war natürlich auch ein Link drin zum Shop. Mein Warenkorb war allerdings wieder leer. Pfusch! Jemandem an der Kasse den Einkaufswagen abzunehmen, ihn nach Hause zu schicken, weil man ihm einen Brief mit einer offiziellen Einkaufslizenz schicken will, und dann bei seiner Rückkehr mit den Schultern zu zucken: „Ihren Einkaufswagen? Nie gesehen …“ Sie fragen sich jetzt wohl, warum ich dann dort das Produkt nicht doch noch kaufte, ich hätte es ja nur noch mal in den Korb legen müssen. Tat ich natürlich auch. Allerdings konnte ich nur mit Paypal bezahlen oder per Vorkasse. Beides ist nicht mein Fall, weil ich es einfach nicht mag. Wenn etwas nicht passt, kommt man nur noch sehr schwer an eine Rückerstattung. Aber nicht nur kleine Shops pfuschen; sich bei den Herstellen Informationen zu beschaffen, ist teilweise noch mühsamer. Zum großen Teil ist das wohl den meist stark unterbudgetierten und zu schwach besetzten Abteilungen, die für das Web verantwortlich sind, geschuldet. Im Laden muss halt jemand stehen, sonst kann er nicht öffnen. Die Festplatte auf dem Webserver ist da gegenüber Sparmaßnahmen augenscheinlich viel geduldiger, der erzeugte Ärger versteckt sich in Bits und Bytes und man erkennt ihn erst dann, wenn man aktiv danach sucht und entsprechende Analysen fährt. Viele Anbieter wissen sicher gar nicht, wie schlecht sie wirklich sind.
Kaufen deshalb alle so gern bei Amazon? Weil uns dort solche Einkaufsenttäuschungen erspart bleiben? Würde es solchen Shops helfen, ihre Produkte über Amazon zu verkaufen? Womit wir bei der wichtigen Eingangsfrage wären: Wer bei Amazon mitspielen möchte, kann dort in der Regel nur durch einen besonders günstigen Verkaufspreis Aufmerksamkeit erregen.
Aber nicht mal das klappt so richtig, weil die Verkäufer nicht selten sogar teurer als Amazon anbieten (Abbildung 6). Oder triggert Amazon die Preise entsprechend runter? Hat der kleine König Kalle Wirsch mit seinem Shop überhaupt eine realistische Chance, von den Betriebskosten her auf Dauer günstiger als Amazon anzubieten? Wahrscheinlich nicht. Aber die vielen Anbieter geben mit ihren automatischen Preisanlieferungen Amazon einen verdammt guten Überblick, wie ein guter Preis berechnet werden muss.
Aber was ist mit Produkten, die Amazon nicht selbst anbietet? Hier kann ein Verkäufer tatsächlich von der enormen Reichweite Amazons profitieren. Und solange das Produkt wirklich in einer kleinen Nische bleibt, kann diese Strategie sicherlich auch längerfristig funktionieren.
Problematisch kann es immer dann werden, wenn Amazon die bestellten Mengen attraktiv findet und die Produkte am Ende dann doch selbst anbietet. Die Verkäufer liefern ja prinzipiell alle (!) Informationen frei Haus, die Amazon für solche Entscheidungen braucht. Und dass Amazon rein datengetrieben arbeitet, ist allgemein bekannt.
Bis auf einige Sonderfälle erscheint das Verkaufen über den Marketplace also langfristig keine Alternative zu sein, die einen Verkäufer reich machen kann. So gesehen versorgen die teilnehmenden Shops Amazon weltweit mit einem eigentlich unbezahlbaren Strom an Daten über Preise und Preisänderungen, Bestellrhythmen, Saisonalitäten, Bestellmengen, Käufersegmente, Cross-Selling-Trigger, die Kundenzufriedenheit mit den jeweiligen Produkten und teilweise sogar über Rücksendequoten. Die Aufnahme eines neuen Produkts ist somit für Amazon praktisch ohne Risiko. Im Gegenteil, es können sogar Umsatz und Gewinn vorab hochgerechnet werden. Für solche Daten würden die Verkaufsabteilungen einiger Unternehmen wahrscheinlich morden.
Entsteht hier unbemerkt und unbemeckert ein gigantisches Verkaufsmonopol, vor dem sich der Einzelhandel, Verlage, Medienunternehmen und viele andere sehr viel mehr fürchten müssten als vor Google, Facebook oder Youtube?
Käufer haben es gern bequem und das kann Amazon wunderbar! Das Produkt ins Suchfeld eintippen und auf „Jetzt mit 1-Click kaufen“ klicken. Das war´s und in der Regel kommt das Paket schon am nächsten Tag, auch wenn man solche Ansprüche als Käufer nicht stellt. In „normalen“ Shops einzukaufen ist zum Teil leider immer noch eine Tortur, weil sie wohl nur halbherzig (oft von einem Dienstleister) betrieben und nicht vernünftig ausgetestet werden. Zudem halten die Shops nur wenige Informationen bereit, warum man ausgerechnet dort kaufen sollte. Alles sieht nach einheitlichen Templates aus, lieblos gemacht und beliebig austauschbar. Kein Gefühl, keine Seele, einfach nur Datenbankauszüge aus dem Produktregal. Ja, es ist nicht einfach, wenn ein Produkt überall gekauft werden kann. Aber das wird wohl auch nicht die Zukunft erfolgreicher Shops sein: das zu verkaufen, was alle verkaufen. „Ich will aber auch mitspielen“ wird nicht mehr ausreichen, um Besucher zu zufriedenen Bestellern zu machen.
Man braucht wohl doch eine Strategie und vor allem eine glaubwürdige Vision. Wer plant, es so zu machen wie alle, sollte es lieber lassen. Im Web gibt es halt doch nur eine einzige Fußgängerzone und dort muss man investieren, wenn man den Laden behalten möchte. In den Hinterhöfen kann man gelegentlich Geschäfte machen, sofern sich genügend Menschen dorthin verirren. Da die Wegweiser im Web aber immer besser werden, sollte man nicht darauf hoffen …