Es fällt mir sehr schwer, ruhig zu bleiben, wenn die KPI-Kasper täglich im Web, auf Konferenzen und sogar in Zeitschriften „Wissen“ absondern, über das sie ganz offensichtlich nicht verfügen. Empfehlungen für KPIs, Nennung „wichtiger“ KPIs oder „Tipps“, welche Zahlen aus welchen Tools KPIs darstellen – grauslich. Ein Teil der Branche erhebt einfach Zahlen, die nicht bei drei auf dem Baum sind, zu „Schlüssel“-Kennzahlen und frönt damit in ausgelassener starker Kurzsichtigkeit (Myopia) nichts anderem als dem eigentlichen und heimlichen Motto des Grand Prix Eurovision de la Chanson: Make shit – a hit!
Fischers Meinung
KPI-Myopia!
Wahrscheinlich ist KPI für Key Performance Indicator, also Schlüsselkennzahl, eine der am meisten missverstandenen, missbrauchten und falsch verwendeten Abkürzungen. Viele, welche die drei „magischen“ Buchstaben in den Mund nehmen, wissen offenbar gar nicht, worüber sie tatsächlich sprechen. Und damit meine ich nicht jene Hobby-Denker, die, wie erst kürzlich auf einer großen Konferenz, als Speaker Sprechdurchfall absondern wie „man müsse die Marke eben noch mehr branden“. Hier merkt jeder schnell, dass „der da vorn“ wenig Ahnung hat, worüber er wirklich spricht. Nein, ich spreche hier von gestandenen Online-Marketers, die noch immer die schnell und einfach greifbaren Zahlen zum KPI-Fetisch erheben.
Info
„Der Begriff Key Performance Indicator (KPI) bzw. Leistungskennzahl bezeichnet in der Betriebswirtschaftslehre Kennzahlen, anhand derer der Fortschritt oder der Erfüllungsgrad hinsichtlich wichtiger Zielsetzungen oder kritischer Erfolgsfaktoren innerhalb einer Organisation gemessen und/oder ermittelt werden kann.“ Quelle: Wikipedia am 11.11.2014
Ist das nun Wortfieselei oder steckt mehr dahinter?
Die Wissenschaft nimmt Definitionen nicht ohne Grund ernst und es reicht bei Weitem nicht, einen Begriff einfach laienhaft ohne die entsprechende Ausbildung zu beschreiben. Ein Beispiel: Für einen Studierenden mit IT-Bezug ist es wichtig, zwischen dem Internet und dem Web zu unterscheiden. Die beiden Begriffe gibt es nicht aus Jux, sondern weil sie unterschiedliche Dinge repräsentieren. Das Web ist nur ein vergleichsweise kleiner Teil des Internets, eben der „sichtbare“ Teil, den man mit Browsern erreicht. Daneben werden über andere Protokolle z. B. Mails oder Files übertragen oder gern auch von den Geheimdiensten abgehört. Studierende der Medizin verwenden die beiden Begriffe möglicherweise mehr oder weniger synonym, weil die Unterscheidung für sie nicht wichtig oder bedeutsam ist. Wir verwenden dagegen oft Begriffe, die für einen Mediziner zu unscharf wären, und sagen schnöde einfach zu allem, was Nasenprobleme verursacht, Schnubbn, wenn man korrekt von einer Sinusitis sprechen müsste. Wer im Online-Business ist, kennt sicher auch das Problem, dass noch nicht einmal der Begriff „Homepage“ einheitlich verstanden wird. Die einen meinen damit die Startseite, die anderen alle Webseiten, die über eine Domain bzw. eine gemeinsame URL-Struktur augenscheinlich zusammengeklammert werden. Letzteres wird wiederum auch gerne als „Site“ bezeichnet und macht Hörprobleme mit dem deutschen Wort „Seite“, das wiederum mal eine einzelne Webseite, aber auch manchmal die ganze Domain meint.
Kurz: Die (Sprach-)Wurst wurde in der Branche im Laufe der Zeit zum Prinzip.
Was sind nun KPIs und warum ist es so wichtig zu verstehen, wie man sie bestimmt? Niemand wird abstreiten wollen, dass das Setzen von Zielen für eben „zielgerichtetes“ Entscheiden und Handeln unabdingbar ist. Wenn ein Läufer für die Olympiade trainiert, ist die gelaufene Zeit für ihn ein wichtiger Indikator. Wenn ein Läufer wegen seiner Fitness trainiert, ist die Veränderung von Puls und Herzschlag eine gute Messzahl. Trainiert er für die Gewichtsabnahme, steigt er wahrscheinlich jeden Morgen auf die Waage und notiert sich den Fortschritt in Bezug auf die gelaufene Strecke und die Dauer des Laufs. Vielleicht möchte ein Läufer oder eine Läuferin auch noch gut aussehen oder wirken beim Joggen – dann könnte die Anzahl der Hinterherpfiffe ein Indikator sein, wie gut dieses Ziel erreicht wurde. Selbstverständlich spielt dann auch die Laufstrecke eine Rolle und an wie vielen Baustellen mit klassischer Aufmerksamkeit gegenüber solchen Reizen man vorbeiläuft.
Verlassen wir diese Analogie und wenden wir uns einem Online-Shop zu. Sind die Conversion-Rate oder der Umsatz wichtige Kennzahlen? Wir wissen es nicht. Und: falsche Frage! Warum? Weil wir die Ziele des Betreibers nicht kennen. Möchten Sie mehr Geld verdienen (Reingewinn) oder möglichst viel Geld durch Ihre Hände laufen sehen (Umsatz)? Umsatz kann man „kaufen“ (z. B. sehr einfach über sehr viel Werbung), insofern wäre eine Steuerung von Entscheidungen nach Umsatz betriebswirtschaftlich in den meisten Fällen kurzsichtig oder myopisch. Wenn ich meinen Umsatz verdoppeln will, muss ich ja nur die Werbeausgaben vervier- oder -fünffachen. Dass sich das am Ende wahrscheinlich nicht lohnt, ist zu befürchten. Aber den Umsatz verdoppeln kann jeder Depp, wenn man ihm nur genug Geld dafür in die Hand drückt.
Warum die Conversion-Rate kein intelligenter KPI sein kann!
Lassen wir doch mal einen Shop 100.000 Besucher pro Monat und 3.000 Verkäufe im Schnitt mit 100 € Warenkorbwert haben. Das sind 3 Prozent Conversion-Rate und 300.000 € Umsatz. Lassen wir den Shopbetreiber weiterhin auf die Idee kommen, gute SEM-Maßnahmen (SEO und SEA) umzusetzen. Die Anzahl der Besucher steigt daraufhin auf 300.000. Leider sind die Besuche über den SEO-Kanal meist mit einer gewissen Streuung behaftet – sei es, dass Besucher gar keine Kaufabsicht haben oder dass der Treffer vielleicht doch nicht so genau auf die Landingpage passt. Die Verkäufe steigen dennoch auf 6.000 an. Schauen wir auf die Conversion-Rate, ist diese auf x Prozent gesunken. Böse! Würde man nach dieser Kennzahl steuern, müsste man die SEO-Maßnahmen wieder abstellen, obwohl der Umsatz gestiegen ist. Nach dem Verhältnis von Besuchern zu Käufern zu steuern, scheint also wenig sinnvoll. Ist dann Umsatz besser? Bleiben wir bei unserem Beispiel. Der Umsatz ist um 300.000 € gestiegen. Gehen wir davon aus, dass hierfür 90.000 € für AdWords-Werbung und anteilig 10.000 € für SEO, in Summe also 100.000 € ausgegeben wurden. Nun analysieren wir die Warenkorbwerte und stellen fest, dass der SEM-Traffic kleinere Warenkörbe generiert hat, zusätzlich ist vielleicht die Rücksendequote für diesen Kanal deutlich höher, weil der Anteil an Impulskäufen gestiegen ist, die später nach dem Öffnen des Pakets bereut werden. Rücksendungen gehen meist richtig ins Geld, und wenn man den verminderten Warenkorbwert bei gleichem Versandaufwand dazunimmt, ergibt sich für eine Gewinnbetrachtung im schlimmsten Fall sogar ein negativer Wert, also ein Verlust. Niemand hat vernünftigerweise das Ziel, Verlust zu produzieren, sondern jeder versucht, Maßnahmen zu vermeiden, die Verluste bringen. Unter dieser Perspektive wird klar, dass auch die Umsatzmaximierung in den meisten Fällen keine gute Steuerungskennzahl darstellt – oder?
Der Knackpunkt liegt in der Zielsteuerung!
Zuerst müssen zwingend Ziele festgelegt werden. Wäre ein wichtiges und erklärtes Unternehmensziel, den eigenen Marktanteil zu erhöhen (z. B. von 5 auf 10 Prozent), dann kann der erzielte Umsatz natürlich als Maßzahl herhalten. Möchte man profitabel sein, taugt diese wiederum nicht. Nach der Fixierung eines Ziels muss man sich überlegen, wie man messen kann, ob und wie weit man diesem Ziel näherkommt. Mit anderen Worten messen KPI den Zielerreichungsgrad und geben einen schnellen Überblick, wo man gerade im Bezug auf ein gestecktes Ziel steht. Diese meist hoch verdichteten Kennzahlen sind allerdings in der Regel nicht so leicht zu ermitteln bzw. werden eben oft nicht von einem Tool bequem per Knopfdruck ausgespuckt. „Unser Ziel ist es, den XY-Sichtbarkeitsindex zu steigern.“ Aha. Und wie berechnet Toolanbieter XY diesen Index überhaupt? Wie ist eine Veränderung dieses Index mit einer tatsächlichen Trafficänderung Ihrer Site verknüpft? Stellt man diese oder ähnliche Fragen auf solche „Ziele“, werden die Antworten schnell dünn.
Man weiß oft gar nicht so genau, wo man hinwill, aber das schnell und mit viel Power!
Sind Ihre Ziele vielleicht, die Kundenzufriedenheit auf der Site zu steigern? Dies kann ja durchaus ein gutes Ziel darstellen. Viel Spaß beim Messen. Wie misst man bei Amazon den „Ease of use“, also die Benutzerfreundlichkeit? Mit der KPI „Umsatz pro Mausklick“. Alle Änderungen auf der Site haben Auswirkungen auf diese Verhältniszahl. Brauchen die Besucher in Summe mehr Klicks bei gleichbleibendem Umsatz, ist es wohl schwerer oder aufwendiger geworden, dort einzukaufen. Sinkt die Anzahl der Klicks, fällt es leichter. Professionelle Versandhändler verwenden z. B. seit jeher die KUR „Kosten-Umsatz-Relation“, um die Ausgaben für Werbemaßnahmen den diesen zurechenbaren Umsätzen gegenüberzustellen und damit die Kanalausgaben und Maßnahmen zu steuern.
„Für B2B-Websites ist ein wichtiger Key-Performance-Indikator die Anzahl an ausgefüllten Kontaktformularen“, hat z. B. jemand in Wikipedia für alle Interessierten hinterlegt. Ist das so? Soll man eine B2B-Site tatsächlich auf ausgefüllte Formulare steuern? Das hieße, bei einem A/B-Test als Entscheidungsgrundlage die Formularanzahl herzunehmen. Variante A brachte 100 Formulare, Variante B 130. Also wählt man B. Wer kritisch nachdenkt, wird vielleicht anmerken, dass es doch darauf ankäme, wie viele von den Formularausfüllern am Ende zu Kunden wurden? Noch kritischere Nachdenker werden ergänzen wollen, dass es doch noch wichtiger wäre zu wissen, welche Variante die „besten“ Kunden (im Sinne von Umsatz oder Profitabilität) brachte? Und natürlich haben beide recht. Was nützt die bloße Steigerung ausgefüllter Formulare oder der Zahl der Kunden? Jeder weiß doch, dass es eine Menge Kunden gibt, an denen man rein gar nichts verdient hat am Ende des Tages.
Verdammt – diese Zahl wäre aber sehr aufwendig zu erheben!
Wer sich den vorherigen Absatz richtig durchgelesen hat, kommt unweigerlich zu der Erkenntnis, dass die „echten“ Steuerungskennzahlen nicht mal eben so im Vorbeigehen erhoben und verdichtet werden können. Bleiben wir beim B2B-Fall. Um zu wissen, welcher Kunde ein „guter“ Kunde ist, braucht man einige Kennzahlen über ihn und muss DAS erst mal errechnen bzw. ermitteln. Er tätigt z. B. umfangreiche Bestellungen, bestellt Waren, bei denen die Gewinnspanne nicht schon ausgelutscht ist, schmutzt wenig am Telefon, schickt nicht ständig Waren zurück und zahlt pünktlich. Außerdem will er nicht ständig über Rabatte verhandeln, was die Marge spürbar senken kann. Dies alles müsste praktisch auch noch rückwirkend in Metriken der Webkennzahlen eingespiegelt werden. Rückwirkend deswegen, weil das Web das hier und jetzt misst, der tatsächliche(!) Erfolg sich aber oft (sehr) viel später zeigt und bestimmen lässt. Wenn man heute einen A/B-Test fährt oder bestimmte Maßnahmen beurteilt, müsste man in der Regel auf Daten warten, die erst morgen bzw. in Zukunft messbar werden. André Morys, einer der Vorstände von Web Arts, hat dies einmal in einem sehr eingängigen Beispiel demonstriert. Eine bestimmte Variante einer Darstellung eines Schuhs ging als eindeutiger Conversion-Sieger bei einem Test hervor. Später stellte sich heraus, dass gerade dieser Schuh plötzlich überproportional häufig zurückgeschickt wurde. Eine offenbar besonders schöne und emotionale Darstellungsvariante hatte (zu) viele zum schnellen Kauf verführt, den (zu) viele dann später wieder bereuten. Hätte man als reines Gedankenexperiment die falsche KPI „Conversion-Rate“ sofort für alle Produkte durchgezogen, hätte das am Ende vielleicht mit Schwung in den Konkurs geführt. Zu weit hergeholt? Vielleicht. Es zeigt aber, dass man in Unternehmen ab einer bestimmten Größe durchaus mit den falschen KPI unbemerkt weit unter dem Optimum herumsteuern kann. Die Wirklichkeit ist in der Regel zu komplex, als alles nach dem Bauchgefühl zu entscheiden.
Absprungrate: Raten, wer von denen da abspringt?
Erschwerend kommt leider oft noch dazu, dass zwar manchmal mit den richtigen KPIs gearbeitet wird, diese aber falsch erhoben werden. So kann z. B. je nach Ziel durchaus die sog. Absprungrate als Verhältnis der Besucher, die nur eine einzige Seite aufrufen und danach die Site wieder verlassen, eine wichtige Kennzahl sein. Im „unbehandelten“ Zustand weisen Analytics-Tools wie z. B. Google Analytics hier aber oftmals missverständliche Zahlen aus, weil die Besuchsdauer mit der Zeitdauer 0 erfasst wird. Hier müssen entsprechende Trigger hinterlegt werden (wie man solche „Ereignisse“ definiert siehe Website Boosting #27, S. 104-110), um echte Abspringer von zufriedenen Einseiten-Besuchern unterscheiden zu können. Wirklich auch das zu messen, was man messen möchte, ist also nicht immer so selbstverständlich, wie man beim ersten Anschein glaubt. Selbst hinter einem so klar wirkenden Begriff wie „Absprungrate“ verbergen sich Stolperfallen, die in die völlig falsche Richtung führen können.
Welche KPI soll ich denn jetzt verwenden?
Wenn Sie noch immer auf den ultimativen Tipp warten, welche KPIs denn nun für Sie richtig wären, kann Ihnen wohl niemand mehr helfen. KPI sind immer zielbezogen und Ziele muss man individuell für das Unternehmen oder die betroffene Entscheidungsebene festlegen.
Erst die Ziele, dann überlegen, wie man deren Erreichung tatsächlich misst, dann die richtigen Zahlen dafür aufstöbern, diese verdichten und auf jeden Fall auch kritisch testen.
Wer Zahlen oder die allseits herumschwirrenden KPI-Beispiele verwendet, nur weil sie „da“ sind und wichtig, interessant oder geheimnisvoll klingen – der baut sich wahrscheinlich auch einen Meilentacho ins Auto ein, damit er bei angezeigten 100 weit höhere Geschwindigkeiten als andere fahren kann. Bis irgendwann jemand mit der grünen Kelle aus dem Autofenster nebenan winkt. Echte Profis mit „echten Messgeräten“ lassen sich von den falschen KPIs leider nicht beeindrucken und die Konsequenzen können einen am Ende durchaus unerwartet und hart treffen.