Es herrscht im Online-Marketing geradezu ein „Best-Practice-Boom“. Beinahe täglich veröffentlichen Unternehmen und Agenturen im Content-Marketing-Wahn ihre Erfahrungen in Form von Anleitungen und Whitepaper. Diese „Best Practices“ werden häufig unreflektiert als Schablonen von anderen Marketern übernommen und umgesetzt, teilweise mit fragwürdigem oder ausbleibendem Erfolg. Sind „Best Practices“ eine einfache Lernmöglichkeit oder gut gemeinter Informationstransfer ohne besondere Wirkung? Ein Plädoyer von Kai Spriestersbach für mehr Reflexion und echtes Lernen im Online-Marketing.
Mit Best Practices zur erfolgreichen Online-Marketing-Strategie?
In unserer Marktwirtschaft sind Unternehmen in ihrer Leistungserbringung einem Wettbewerb mit Mitbewerbern ausgesetzt und müssen daher gewinnorientiert agieren, um weiterhin in diesem Umfeld bestehen zu können. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass jede Tätigkeit und Leistung daraufhin geprüft wird, ob Kunden bereit sind, dafür zu zahlen oder nicht. Alle Investitionen in die Weiterbildung in Unternehmen hängen also davon ab, ob damit strategische Vorteile mit ökonomischer Verwertbarkeit zu erzielen sind. Unternehmen müssen in Fortbildung investieren, um erfolgreich zu sein und langfristig erfolgreich zu bleiben.
Doch wie schafft es ein Online-Marketer, in diesem sich ständig ändernden Umfeld stets am Puls der Zeit zu bleiben?
Best Practices als ideale Lernstrategie?
Best Practices zu adaptieren, scheint hierfür geradezu die ideale Strategie zu sein. Andere Unternehmen oder Spezialisten veröffentlichen, häufig zu Werbezwecken, ihre Ergebnisse aus Forschung, Theorie und Praxis. Was liegt näher, als sich dieses Substrat einzuverleiben und davon direkt zu profitieren, ohne selbst Zeit zu investieren, Fehler zu machen und aus diesen zu lernen? Dieser Boom beim Lernen durch Bestlösungen wird häufig von dem Wunsch getragen, durch Beobachtung, Analyse und Imitation besonders erfolgreicher Beispiele effizient zu lernen und die eigene Performance rasch zu verbessern. Viele Unternehmen erhoffen sich durch Best-Practice-Adaption ein rasches Aufholen von Innovationsrückständen und den einfachen, großen Sprung nach vorn.
Allerdings ist dies auch gefährlich, denn in der Online-Marketing-Welt herrscht eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Best-Practice-Adaptionen greifen oft zu kurz. Was nützt es, besonders klickstarke AdWords-Anzeigen zu erstellen, wenn am Ende der Customer Journey der Kunde woanders kauft? Was bringt es, die erfolgreiche E-Mail-Kampagne eines US-amerikanischen Branchenprimus zu kopieren, wenn die eigene Zielgruppe gänzlich anders tickt?
In der Suchmaschinenoptimierung zum Beispiel entstehen neue Optimierungsansätze häufig anhand der Auswertung von Patenten oder Experimenten durch Experten, denn erst das Verständnis der Grundlagen, sprich Rankingfaktoren, eröffnet einem guten SEO die Möglichkeit, selbst neue Strategien zu entwickeln, statt lediglich auf die bewährten Methoden der Branche zurückzugreifen.
Zitatkasten am Rand: Richtig eingesetzt, können Best Practices bei nicht zu komplexen Aufgabenstellungen tatsächlich die eigene Performance verbessern. Wer immer nur Best Practices adaptiert, versteht jedoch das Gesamtsystem dahinter nicht. Effizienz beim Lernen darf nicht zulasten der Effektivität des Gelernten gehen.
Zweifellos kann Best-Practice-Lernen durch die Imitation von Bestlösungen eine effiziente Lernform darstellen. Klar sollte aber auch sein, dass Lernen und Adaptionen bei komplexen Systemen äußerst anspruchsvolle Angelegenheiten sind und bereits kleine Änderungen einzelner Parameter über den Ausgang und das Gelingen entscheiden können.
Das Problem mit Best Practices im Marketing
1. Best Practices haben ein Verfallsdatum
Viele Online-Marketing-Best-Practices sind wie Märchen: Sie werden so lange wiederholt und erzählt, bis sie ein Eigenleben bekommen und am Ende mit der tatsächlichen Erfolgsgeschichte nur noch sehr wenig gemeinsam haben. Gerade in der Suchmaschinenoptimierung werden durch die rasanten Veränderungen an Googles Rankingalgorithmen so aus den heißesten Tipps schnell die gefährlichsten Manöver. Wer will heute denn noch 8 % Keyworddichte in seinen Texten oder exakte Keywordlinks aus Artikelverzeichnissen?
Ebenso galt es lange Zeit als echter Performancebringer, die Betreffzeilen in Newsletter-E-Mails möglichst kurz zu halten. Neuere Erkenntnisse lassen allerdings auf das Gegenteil schließen. So verbessern Betreffe von 90 Zeichen und mehr die Öffnungsraten signifikant – wahrscheinlich, weil man nun mehr Vorteile kommunizieren kann. Die ursprüngliche Best Practice stammt eben noch aus einer Zeit, in der die Bildschirme und Auflösungen wesentlich kleiner waren und daher in den Mail-Clients einfach weniger Platz zur Verfügung stand. Mittlerweile könnte man dann die alten Weisheiten fast schon wieder im mobilen E-Mail-Marketing einsetzen.
Technologien ändern sich und unsere Nutzungsgewohnheiten ebenso. Daher sollte man vor allem älteren Empfehlungen stets mit einer gewissen Skepsis begegnen.
2. Best Practices lassen sich nicht immer adaptieren
Best Practices gehen davon aus, dass jeder Nutzer gleich ist und die gleichen Ziele verfolgt. Im Grunde genommen stimmt das ja auch. Jeder Mensch braucht Nahrung, Wasser und ein Dach über dem Kopf. Alle Unternehmen wollen Waren oder Dienstleistungen verkaufen und Gewinne erwirtschaften. Aber im Detail ist es dann doch ein bisschen komplizierter, denn nicht jedes Unternehmen hat die gleichen Voraussetzungen. Unter Umständen werden vollkommen andere Ziele verfolgt, und so sollte man besonders vorsichtig bei der Umsetzung von Best Practices sein.
Beispielsweise kann eine AdWords-Anzeige mit dem Zusatz „Zahlung auf Rechnung“ oder „versandkostenfreie Lieferung“ zwar deutlich höhere Klick- und vielleicht sogar Konversionsraten erzielen, doch was nützt es dem Unternehmen, wenn die Optimierung dann zulasten der Rücksendequote und damit des ROI geht?
Im Einzelfall müssen Empfehlungen und generalisierte Optimierungstricks immer geprüft und getestet werden. Nur so kann man als Unternehmen sicherstellen, dass diese auch wirklich eine bessere Performance liefern.
3. Best Practices werden zu Klischees
Wie bereits erwähnt, werden Best Practices gern wiederholt und wiederholt, bis am Ende jeder danach handelt. Ob es sich dabei immer noch um den Königsweg handelt oder nicht, spielt dabei oft keine Rolle mehr, und hinterfragt werden diese Empfehlungen auch sehr selten.
Wie soll sich ein Unternehmen denn aber von seinen Mitbewerbern absetzen und etwas Außergewöhnliches werden, wenn man ständig nur die Strategien der anderen kopiert? Im schlimmsten Falle werden diese Strategien dann auch noch zur Falle. In der Suchmaschinenoptimierung beispielsweise werden erfolgreiche Taktiken häufig so lange kopiert, bis diese für die Betreiber der Suchmaschine zu einem Problem werden und irgendwann als Spam klassifiziert und somit nicht nur wertlos, sondern gar gefährlich werden.
Halten Sie sich also fern von Best Practices, die von allen umgesetzt werden. So setzen Sie sich garantiert nicht von Ihren Mitbewerbern ab und riskieren, in einen Topf mit unkreativen „Copy-Cats“ geworfen zu werden.
4. Best Practices beschränken die Kreativität
Wer immer nur nach der besten Lösung bei anderen sucht, vergisst womöglich die eigene Kreativität und damit die Chance auf eine vollkommen neue, innovative oder gar revolutionäre Lösung. Selbst wenn man Best Practices testet und weiter verbessert, weiß man doch nie, zu welcher Lösung man gekommen wäre, wenn man sich wirklich von Anfang an selbst Gedanken dazu gemacht hätte. Natürlich dauert es länger, eigene Wege zu gehen, aber um wirklich großartige Lösungen zu finden, ist es sehr viel besser, ohne Vorbilder, Modelle oder Steigbügel zu starten.
Trauen Sie sich, Ihre eigenen Erfahrungen, Experimente und Entdeckungen zu machen. Und ja: Fehler machen gehört dabei ebenso dazu wie Mut zu haben und offen für Neues zu sein.
5. Best Practices zeigen nie das gesamte Bild
Best-Practice-Anleitungen werden stets mit einer bestimmten Intention veröffentlicht. Oft sind die Autoren Berater, Agenturen oder Unternehmen, die darüber die eigene Reputation verbessern wollen. Doch fragen Sie sich, wieso man alle Informationen preisgeben und sich so selbst überflüssig machen sollte. Die meisten öffentlichen Best Practices zeigen nur einen bestimmten Ausschnitt der tatsächlichen Realität. Diese isolierte Betrachtung birgt enorme Risiken bei der unreflektierten Adaption. Beispielweise könnte die so erfolgreiche Newsletter-Kampagne ja nur für Männer gewesen sein, in Ihrem Verteiler sind aber hauptsächlich Frauen. Oder die super konvertierende Landingpage funktioniert hervorragend bei Versicherungen, Sie aber verkaufen Mode.
Schaffen Sie sich also ausreichend Freiräume, Zeit und Budget, die Dinge selbst auszuprobieren, eigene Erfahrungen zu machen, zu testen und zu experimentieren. Zeit und Budget für Fortbildungen sollten für jeden Mitarbeiter vorhanden sein und eingeplant werden.
An dieser Stelle mag man sich vielleicht den folgenden fiktiven Dialog zwischen CFO und CEO vor Augen führen:
CFO: Was passiert, wenn wir in unserer Mitarbeiter investieren und sie verlassen das Unternehmen?
CEO: Und was passiert, wenn wir sie nicht weiterbilden und sie bleiben?
Tipps im Umgang mit Best Practices
- Versuchen Sie, die Ausgangslage, Situation und Ziele der Vorlage genau zu verstehen.
- Wählen Sie das Vorbild sorgfältig aus. Ist dieses wirklich für Sie als Vorlage geeignet?
- Vermeiden Sie, bloßer Nachahmer zu sein und wie alle anderen zu operieren.
- Kopieren Sie die Strategie so genau wie möglich. Jede Modifikation birgt das Risiko des Effektivitätsverlusts.
- Ist die Lösung noch zeitgemäß und sind die Vorschläge noch gültig?
- Behalten Sie stets das Vorbild im Auge. Anpassungen deuten auf neue Erkenntnisse hin.
- Verstehen Sie die Mechanismen dahinter und entwickeln Sie so eigene Verbesserungen.
- Testen und validieren Sie sämtliche Veränderungen hinsichtlich ihrer Effektivität.
Best Practices haben ihren Wert, überschätzen Sie diesen jedoch nicht.
Der Einsatz von Best Practices erscheint erst mal sehr attraktiv, weil es dabei tatsächlich sehr oft einfach nur um die effiziente Übernahme bereits erprobter Lösungen geht. Richtig eingesetzt, können Best Practices bei einfachen Aufgabenstellungen tatsächlich die eigene Performance verbessern.
Bei komplexen Herausforderungen stoßen diese aber schnell an die Grenzen ihrer Brauchbarkeit. Wenn ein Unternehmen beispielsweise eine neue strategische Ausrichtung benötigt oder so dynamisch und erfolgreich wie der weltberühmte Mitbewerber werden möchte, oder wenn etwa die Einzigartigkeit der eigenen Angebote erhöht werden soll, dann funktioniert dies nicht mehr einfach über Imitationslernen.
Echte Innovation und Exzellenz entspringen auch im Online-Marketing einem langen Prozess. Wer zu einem echten Experten oder besonderen Unternehmen werden will, muss breites und tiefes Wissen erwerben, Verständnis aufbauen und Erfahrungen durch Versuch und Irrtum sammeln.