Retargeting = Reaktivierung von Käufern?

Oder hätte der User sowieso gekauft?

Tobias Kiessling
Tobias Kiessling

Tobias Kiessling studierte Informationswirtschaft an der Universität Karlsruhe (TH). Er ist CTO und Mit-Geschäftsführer des unabhängigen Technologie-Anbieters intelliAd Media GmbH mit Sitz in München. Vor der Gründung der intelliAd Media GmbH war er im Bereich der SEM-Optimierung unter anderem für den Suchwortvermarkter MIVA beratend tätig. Sein Fachgebiet ist die computergestützte Performance-Optimierung im Suchmaschinenmarketing, insbesondere für Google-Adwords-Kampagnen. Auf diesem Gebiet besteht eine Forschungsgemeinschaft mit der Marketing-Fakultät der Yale University sowie der TU München.

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Der Performance-Gedanke ist auch im Display-Marketing angekommen und hat das Thema Retargeting  auf die Agenda gebracht. Mit Retargeting ist die gezielte Wiederansprache von Usern gemeint, die einen Online-Shop besucht haben. Dass Retargeting funktioniert, darin sind sich alle einig. Erfahrungen zeigen, dass eine Steigerung der „Klickquote“ auf Retargeting-Banner um den Faktor fünf bis zehn möglich ist! Doch das Thema spaltet die Marketing-Welt. Funktioniert Retargeting auch dann noch, wenn man nicht nur die Conversion-Rate im Auge hat, sondern etwas genauer hinschaut? Hätte der User vielleicht sowieso gekauft? Hat Retargeting zusätzlich einen Branding-Effekt? Kannibalisiert Retargeting andere Marketing-Kanäle? Und in welchem Teil der Klickkette wirkt Retargeting? Tobias Kiessling berichtet über diesbezügliche Studienergebnisse, die intelliad in Kooperation mit der TU München ermittelt hat. 

Was ist Retargeting eigentlich genau?

Unter Retargeting wird im Online-Marketing ein Verfahren verstanden, bei dem Besucher einer Webseite – üblicherweise eines Webshops – mit einem Cookie markiert und anschließend auf anderen Webseiten mit gezielter Werbung wieder angesprochen werden. Criteo unterscheidet drei Stufen des Retargetings. Beim statischen Retargeting wird einem Shop-Besucher nach Verlassen der Website erneut ein einfaches Banner mit dem Shop-Logo gezeigt. Bei dem segmentierten Retargeting sieht der User ein Banner auf Produktebene. Hat er sich beispielsweise Digitalkameras angeschaut, werden ihm Produkte aus diesem Segment vorgeschlagen. Erst das personalisierte Retargeting spricht den User individuell an, zeigt ihm genau die Produkte, für die er sich interessiert, und fordert ihn zum Kaufen auf. 

Im Folgenden ist mit Retargeting immer das personalisierte Retargeting gemeint. 

Retargeting – Fluch oder Segen?

Wer sich mit dem Thema Retargeting beschäftigt, sollte sich auch über die möglichen negativen Aspekte dieser Werbeansprache im Klaren sein. Jedes Unternehmen muss sich die Frage stellen, ob und nach wie vielen Malen eine Wiederansprache des potenziellen Käufers in Verärgerung umschlägt. In der Presse wird über Retargeting auch schon mal als „die höchste Form des Verfolgens eines Kunden“ und von „aufdringlicher Werbung“ gesprochen (z. B im Handelsblatt, siehe einfach.st/hb1). Dieser „Nervfaktor“ von Retargeting kann sich unter Umständen negativ auf die Marke auswirken. Daher sind Mechanismen wie ein sinnvolles Frequency Capping und eine intelligente Ansprache mit komplementären und verwandten Produkten anzuraten (siehe Ausblick).

Aufbau der Untersuchung

In einem sechsmonatigen Studienprojekt mit der Technischen Universität München (siehe Kasten) wurden über 15 Millionen Klickketten und 25 Millionen Klicks ausgewertet. Basis waren die User-Journeys zweier Kunden (aus dem Fashion- und Travel-Bereich). Dazu hat intelliAd mit seinem Multichannel-Tracking jeden Klick der Kette erfasst. Beim Kern der Untersuchung wurden nur Klicks und keine Ad-Views berücksichtigt. Einschränkend ist zu beachten, dass diese Daten nur bedingt für andere Branchen gelten. Zudem wurde im Multichannel-Tracking das Problem der Multi-Device-Nutzung noch nicht gelöst. Flankiert wurden die Auswertungen durch eine interne Untersuchung von einer Millionen User-Journeys.

Auswertung: Den User verstehen und nicht „nur“ die Klickkette

Beim Studienprojekt ging es nicht primär darum, nur die Daten auszuwerten, sondern vielmehr tief gehende statistische Analysen durchzuführen und in den Datenmengen Charakteristika zu erkennen, die dann wiederum Rückschlüsse auf das stereotypische Verhalten von Usern zulassen.   
So gelang es, eine typische Klickkette für den Fashion-Bereich unter Beteiligung von Retargeting abzuleiten. Es zeigte sich, dass die Kette meist mit dem Klick auf eine Google-Adwords-Anzeige beginnt und mit der direkten Eingabe der Shop-Brand bei Google endet. Dazwischen erfolgen mehrere Klicks auf Retargeting-Anzeigen, und zwar über einen Zeitraum von vier Wochen, wobei zwischen dem ersten Retargeting-Klick und dem zweiten teilweise mehrere Wochen vergehen. Daraus ergibt sich ein erstes Indiz, dass Klickketten mit Retargeting-Beteiligung länger dauern.

Wie und wo in der Klickkette wirkt Retargeting?

Retargeting wirkt offenbar in der Mitte und am Ende einer Klickkette, denn der letzte Klick vor dem Kauf erfolgte bei den untersuchten Fällen in vier Prozent der Klickketten auf eine Retargeting-Anzeige. Bei ebenfalls knapp vier Prozent der analysierten Ketten fand sich der Retargeting-Klick in der Mitte der User-Journey. Auch wenn dies nur exemplarisch ist, kann daraus abgeleitet werden, dass der Kanal Retargeting beim Kauf sowohl assistiert (Mitte) als auch den User zum Kauf bringt (Ende).

Um die Frage zu klären, wie stark Retargeting den Kauf unterstützt (Assist-Wirkung), wurde im Rahmen der Studie eine eigene Metrik entwickelt, die das Supportverhalten eines Kanals in der Klickkette bestimmt. Dafür wurden 30.000 Conversions untersucht.

Diese Betrachtung (Interne Analyse, Zeitraum: 01.01.-14.03.2011, Cookie-Laufzeit 30 Tage,
Travel-Segment, Datenbasis: 30.000 Conversions) setzt die Assists (A) in ein Verhältnis zu den Conversions nach Last-click-Wins (B) und ermöglicht so die Bewertung des Unterstützungsverhaltens eines Kanals in Bezug auf alle anderen Kanäle. Je höher der Wert, desto besser eignet sich der Kanal als Assist für Conversions in anderen Kanälen. Auch hier ging es darum, Indizien zu bekommen, wie sich Retargeting in der Klickkette verhält und ob Retargeting Conversions eher unterstützt oder auslöst.

Deutlicher Sieger in Sachen Supportverhalten ist der Newsletter mit einem über 30 Prozent besseren Supportverhalten als generische Google Adwords, die mit 100 Prozent gewertet wurden und so die Basis dieses Index darstellen. Newsletter stehen oft am Anfang einer Klickkette (Klick auf den Newsletter im Mailprogramm). Im weiteren Verlauf der Internetrecherche klickt der User dann naturgemäß nicht mehr auf den Newsletter und setzt seinen Kaufprozess daher beispielsweise mit der Eingabe der Shop-Brand bei Google fort. Daher ist der Newsletter vergleichsweise selten der unmittelbarere Auslöser der Conversion (B), sondern assistiert für andere Kanäle (A). 
Bereits zweitbester Supportkanal für Conversions beim untersuchten Kunden aus dem Travel-Bereich ist Retargeting mit einem fast acht Prozent besseren Supportverhalten im Verlauf der Klickkette als generische Google Adwords. Ebenfalls ein logisches Ergebnis, denn sowohl Newsletter als auch Retargeting sind sich in der User-Ansprache ähnlich und richten sich an Kunden, die schon vorher Interesse zeigten, entweder durch ein Opt-in für den Newsletter oder durch den Besuch des Shops. Dieses Ergebnis ist ein Indikator dafür, dass Retargeting andere Kanäle nicht kannibalisiert, sondern sogar unterstützt. 

Reaktiviert Retargeting die User wirklich? 

Betrachtet man nun die Klickketten, bei denen der User im Laufe des Kaufprozesses auf eine oder mehrere Retargeting-Anzeigen geklickt hat, ergibt sich eine Auffälligkeit: Retargeting tritt oft nach vielen Tagen „Pause“ in der User-Journey wieder auf. Anhand der exemplarischen User-Journey aus dem Fashion-Bereich dauerte es nach dem zweiten Klick nahezu drei Wochen, bis der dritte Klick erfolgte (siehe Abbildung 2).  

Dies ist ein erstes Indiz zur Beantwortung der zentralen Frage, ob der Kunde nicht auch gekauft hätte, wenn er nicht über Retargeting angesprochen worden wäre? Um diese Frage auf wissenschaftlichem Niveau zu klären, wurden in Zusammenarbeit mit der TU München (Siehe Kasten, nur Klicks, keine Views, Travel-Segment) zwei Hypothesen aufgestellt und diese anhand von 15,5 Millionen User-Journeys  und 25 Millionen User-Interaktionen geprüft. 

Hypothese 1: Der Kaufentscheidungsprozess dauert bei Retargeting länger als bei Kampagnen über andere Kanäle.

Die typische Klickkette, die sich aus der Analyse aller Datensätze ergab, zeigt deutlich, dass die Gesamtdauer des Kaufentscheidungsprozesses unter Beteiligung von Retargeting länger ist als bei allen anderen Kanälen. Anscheinend gilt dies auch branchenunabhängig und lässt den Schluss zu, dass Retargeting User zum Kauf bringt, die sonst nicht gekauft hätten. Es erfolgt quasi eine Wiederaufnahme der User-Journey.

Hypothese 2: Der zeitliche Abstand von der Conversion zur vorherigen Interaktion ist bei Retargeting signifikant unterschiedlich.

Die Analyse zeigt weiterhin, dass bei Retargeting-Kampagnen der Abstand zwischen letztem Klick und Conversion signifikant größer ist als bei anderen Kanälen. Das lässt die Deutung zu, dass Retargeting den User dazu bewegt, doch noch zu kaufen, wenn er zwischen dem letzten Klick und der Conversion weiterhin mit Retargeting-Ads konfrontiert wird. Dieser sogenannte Impression-Effekt erinnert an den Kaufwunsch beziehungsweise an die Brand und führt schließlich doch noch zum Kauf. Das lässt vermuten, dass Retargeting auch einen Branding-Effekt hat. Dieses Ergebnis muss jedoch noch mit echten View-Daten untermauert werden.

Um die Erkenntnisse aus der universitären Studie weiter zu verifizieren, wurden weitere 3.000 Conversions (alle relevanten Kanäle) eines Kunden im Fashion-Segment untersucht (Interne Analyse, Jan.– April 2011. Datenbasis: Alle Kanäle 3000 Conversions, Retargeting (Criteo) 995, Cookie-Laufzeit 30 Tage).

Erfahrungen aus dem Online-Marketing zeigen, dass eine Klickkette im Schnitt 1,7 Tage dauert. Das wird auch bei der Untersuchung der Klickketten des Mode-Anbieters deutlich. 62 Prozent der Conversions finden innerhalb eines Tages statt. Die Conversion-Wahrscheinlichkeit nimmt dann kontinuierlich ab. Nach 23 bis 30 Tagen erfolgen nur noch zwölf Prozent der Käufe. Ist allerdings Retargeting als Kanal beteiligt, dreht sich das Bild: 42 Prozent der User kaufen auch noch nach 23 bis 30 Tagen. Retargeting führt also zu überdurchschnittlich vielen späten Conversions. Auch dieses Ergebnis untermauert einen Reaktivierungseffekt durch Retargeting. 

Zusammenfassung: Retargeting = Reaktivierung

Die Ergebnisse der Studie der TU München und der Analysen ergeben zahlreiche sich bestätigende Indizien und lassen daher folgende Schlussfolgerungen zu: 

  • Klickketten mit Retargeting-Beteiligung werden seltener vom User abgebrochen und dauern daher länger.
  • Retargeting-Maßnahmen sorgen für die Wiederaufnahme der Journey.
  • Retargeting hat ein ähnlich gutes Supportverhalten wie Newsletter und trägt wesentlich zu Conversions bei.
  • Retargeting hat einen Branding-Effekt.

Oder anders gesagt: Retargeting reaktiviert tatsächlich User, die ohne diesen Kanal wahrscheinlich nicht gekauft hätten. 

Ausblick: Dynamische Budgets und Werbung als Mehrwert

Diese Studie macht einmal mehr deutlich, wie immens die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Online-Kanälen sind. Und damit nicht genug, auch Offline-Kanäle wie der Katalog beeinflussen das Käuferverhalten und führen zu Reaktionen, die auch im Online-Marketing berücksichtigt werden müssen. Meine These ist es daher, dass die Budgets in spätestens drei Jahren zentral vergeben werden und sich dynamisch an dem User-Verhalten orientieren. Dazu bedarf es der vollständigen Integration der User-Journey in ein intelligentes Steuerungstool, denn nur so können Kunden entsprechend ihrem Status im Kaufprozess angesprochen werden. Je nach Ergebnis könnten sich Shop-Betreiber dann überlegen, ob es beispielsweise Sinn ergibt, einen Kunden am Ende der Klickkette noch mit Affiliate-Marketing anzusprechen oder den Kunden spontan mit Rabattaktionen zu locken, die sonst nur via Newsletter verschickt werden.  
Eines muss man sich bewusst sein: Retargeting spricht ausschließlich „interessierte“ User an. Dieses Interesse muss aber erst durch andere Kanäle geweckt werden. Außerdem müssen Budgets mit Bedacht eingesetzt werden. Es muss ein intelligenteres Capping geben, das die negativen Effekte des Retargetings, wie die Verärgerung des Kunden durch „Verfolgung“, beseitigt. Statt bereits gekaufte Produkte nach wie vor angezeigt zu bekommen, sollten verwandte und komplementäre Produkte in der Retargeting-Maßnahme erscheinen. Zudem könnten noch bessere User-Profile und Empfehlungsmechanismen die Akzeptanz von Werbung weiter steigern – bis diese dann irgendwann sogar als Mehrwert empfunden wird.